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Staatsrechtliches Neuland betreten

BUNDESLÄNDER Landtagsabgeordnete dringen auf Mitspracherechte in Angelegenheiten der Europäischen Union

20.09.2010
2023-08-30T11:26:03.7200Z
5 Min

Bregenz und München liegen manchmal nur einen Knopfdruck voneinander entfernt -wenn nämlich per Elektropost der neueste Beschluss in Sachen "Subsidiaritätsrüge" vom Europaausschuss des Bayerischen Landtags an die Kollegen im Vorarlberger Parlament geht. Mit der Subsidiaritätsrüge können die nationalen Parlamente monieren, dass der im EU-Vertrag von Lissabon verankerte Grundsatz der Subsidiarität verletzt ist. Ihm zufolge soll die Europäische Union außerhalb ihrer ausschließlichen Zuständigkeit nur handeln, wenn und soweit die Ziele nicht auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. "Wir arbeiten mit den Österreichern zusammen, weil sie subsidiaritätsbewusst sind", sagt die Vorsitzende des Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten auf bayerischer Seite, Ursula Männle (CSU).

Diese "formelle Kooperation" (Männle) ist aus zwei Gründen besonders: Etwas Vergleichbares gab es mit deutschen Bundesländern bislang nicht. Und eine Subsidiaritätsverletzung könnte der Bayerische Landtag gar nicht selbst rügen. Denn in Angelegenheiten der EU ist die Rollenverteilung zwischen Bund und Ländern eindeutig: Die Länder wirken durch den Bundesrat mit, bestimmt das Grundgesetz. "Die Landesparlamente bleiben nach bisheriger Rechtslage außen vor", sagt Adelheid Puttler, Professorin für Öffentliches Recht in Bochum. Daran hat der Vertrag von Lissabon nichts geändert - mit nationalem Parlament meint er immer das Parlament des Gesamtstaats. Das heißt, allein Bundestag und Bundesrat agieren in der EU. Lediglich im Protokoll Nummer 2 zum Vertrag ist auch von "regionalen Parlamenten mit Gesetzgebungsbefugnissen" die Rede, nach Einschätzung der Europarechtsexpertin allerdings ohne zwingende rechtliche Folgen.

Stuttgarter Erklärung

Ein immer wieder von den Landesparlamenten als "Demokratiedefizit" kritisierter Umstand, zuletzt artikuliert auf der jährlichen Konferenz der 16 Präsidentinnen und Präsidenten der Landesparlamente im Juni dieses Jahres. Als Konsequenz dieser Kritik haben sie die "Stuttgarter Erklärung" verabschiedet, in der sie mehr Mitspracherechte und Einwirkungsmöglichkeiten in EU-Angelegenheiten für die Legislative der Bundesländer fordern. Konkret sieht die einstimmig beschlossene Erklärung zwei Dinge vor: Die Informationsrechte der Landesparlamente sollen verbessert werden, eventuell auch durch eine Gesetzesänderung auf Bundesebene. Und die Landtage sollen die Landesregierungen im Bundesrat auf eine bestimmte Position verpflichten können, wenn originäre Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder von EU-Angelegenheiten betroffen sind.

Mit einer solchen Idee wird "staatsrechtliches Neuland betreten", sagt Peter Straub (CDU), Präsident des Landtags Baden-Württemberg und Vorsitzender der Parlamentspräsidentenkonferenz. Der Grund: Nicht die Länder als solche, sondern nur Mitglieder der Landesregierungen gehören dem Bundesrat an. Diesen Mitgliedern dürfen die Landesparlamente keine Weisungen erteilen. So hat es das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf den maßgeblichen Artikel 51 sehr früh entschieden, so steht es in fast allen gängigen Kommentaren zum Grundgesetz.

Peter Straub hält dagegen: Bei der Entscheidung im Jahr 1958 seien die gravierenden Auswirkungen der zunehmenden Rechtsetzung der EU auf Bund und Länder noch nicht einmal in Ansätzen absehbar gewesen. "Heute gilt es, eine Konkordanz zwischen den Bestimmungen des Grundgesetzes über den Bundesrat und dem vom Bundesverfassungsgericht neu entwickelten, im Demokratieprinzip verankerten Grundsatz der Integrationsverantwortung herzustellen."

Maßstab Landesrecht

Der Landtagspräsident kann sich auf Vorarbeiten der Landtagsdirektoren sowie eine Stellungnahme des Staatsrechtlers Hans-Jürgen Papier stützen. In einem Vortrag auf der Landtagspräsidentenkonferenz vertrat der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts die Auffassung, dass es möglich sei, die Landesregierungen zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten zu verpflichten. Maßstab sei allein das Landesverfassungsrecht; dort könne eine entsprechende Regelung mit Wirkung für das Innenverhältnis zwischen Landesregierung und Landesparlament getroffen werden. Auch die Bochumer Professorin Adelheid Puttler hält diesen Weg für denkbar. Unzulässig sei jedoch "eine unmittelbare Wirkung für den Bundesrat als Bundesorgan"; das ginge nur über eine Grundgesetzänderung. Konkret hieße das: Im Innenverhältnis könnte die Landesregierung vom Landesparlament verpflichtet werden, im Bundesrat dem Plenumsbeschluss entsprechend abzustimmen. Täte sie es dann nicht, wäre die Stimmabgabe im Bundesrat aber trotzdem wirksam.

Juristisch also eine verzwickte Sache. Wie sinnvoll es ist aus politischer Perspektive, ist nach Einschätzung von Adelheid Puttler eher fraglich. Denn ob es letztlich wirklich mehr Einfluss der Landesparlamente auf Brüssel bedeute, hänge von so vielen anderen Faktoren ab: "Sie brauchen eine Mehrheit im Bundesrat, dann eine Bindung der Bundesregierung, diese wiederum müsste sich auf europäischer Ebene erst durchsetzen, auf der wieder Mehrheiten erforderlich sind und so weiter."

Michael Link (FDP), stellvertretender Vorsitzender des Bundestags-Europaausschusses, ist zurückhaltend in seiner Bewertung: "Es ist verständlich, dass auch Landesparlamente sich nun intensiver mit EU-Materien befassen möchten, die sie selbst betreffen." Dazu sei es sehr sinnvoll, dass die Abgeordneten Informationen ohne Zeitverzug erhielten. Bezüglich einer möglichen Bindung der Landesregierungen könne er aus den Erfahrungen auf EU-Ebene nur davor warnen, dass ein Parlament seiner Regierung für Verhandlungen auf der nächst höheren Ebene zwingende Vorgaben macht: "Parlamente, die auf EU-Ebene damit begonnen hatten, solche imperativen Mandate zu erteilen, mussten feststellen, dass dies ihrem Land in Brüssel keinen Verhandlungsspielraum für Kompromisse ließ, mit der Folge, dass sich die Kompromisse ohne dieses Land bildeten. Man ist dort aus Erfahrung vorsichtiger geworden."

Ähnliche Interessen

Der CDU-Abgeordnete Michael Stübgen, ebenfalls Mitglied im Europaausschuss des Bundestags, hält den Ansatz der "Stuttgarter Erklärung" für gut und interessant: "Ich habe volles Verständnis dafür, dass ausreichend Informationen gewünscht werden." Das weitere Vorgehen sei nun selbstverständlich Sache der Länder und des Bundesrats: "Hier haben wir schon aus Respekt vor anderen Verfassungsorganen wenig zu sagen." Es gebe eine ähnliche Interessenlage wie im Verhältnis des Bundestages zur Bundesregierung; hier habe man im Bund mit den Begleitgesetzen eine gute Lösung gefunden.

Die Begleitgesetze sind Folge des Lissabon-Urteils vom 30. Juni 2009. Das Bundesverfassungsgericht hatte das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon für verfassungsgemäß, das Begleitgesetz jedoch für teilweise verfassungswidrig erklärt. Bundestag und Bundesrat müssten ihre "Integrationsverantwortung" stärker wahrnehmen, urteilten die Richter. Zu den Landesparlamenten hatte sich Karlsruhe allerdings nicht geäußert - "das war nicht Gegenstand der Entscheidung", erklärt Puttler. Nur der Bundesgesetzgeber sei direkt angesprochen worden. Bundestag und Bundesrat besserten zügig nach und beschlossen im September 2009 insgesamt vier neue Begleitgesetze.

Auch wenn die Landtage in EU-Angelegenheiten rechtlich "nicht vorgesehen sind" (Puttler), spielt Europa in der parlamentarischen Praxis eine immer größere Rolle, sagt Ursula Männle. Bayern kooperiere nicht nur mit Vorarlberg, sondern habe erst kürzlich eine Gesetzesänderung beschlossen, welche die Pflichten der Münchner Staatsregierung konkretisiere. Jetzt ist geregelt, dass die Regierung in EU-Angelegenheiten dem Landtag "Gelegenheit zur Stellungnahme" gibt und diese "berücksichtigt". Auch die von Karlsruhe für den Bundesgesetzgeber betonte "Integrationsverantwortung" findet sich im Text. Außerdem berichtet Männle, dass schon vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon "Probeläufe zur Subsidiaritätsrüge" im Bayerischen Landtag gestartet wurden - 50 insgesamt, neunmal habe man eine Verletzung festgestellt, "achtmal hat das die Staatsregierung genauso gesehen".

Ursula Männle hofft, dass diese Vorgehensweise von anderen Landesparlamenten angenommen und die Vernetzung untereinander besser wird. Sie reiste jüngst zur "Europapolitischen Sprechertagung" von CDU und CSU in Hamburg. Wichtigstes Thema: Koordination. Ein Anfang ist im Juni bei einer Sitzung der Bayern mit dem Europaausschuss des Landtages von Baden-Württemberg gemacht worden. Die Ausschüsse unter Vorsitz von Ursula Männle und dem FDP-Abgeordneten Hagen Kluck haben vereinbart, dass sich Baden-Württemberg der Zusammenarbeit zwischen Bayern und Vorarlberg anschließt. Auf Knopfdruck gehen nun auch Dokumente nach Stuttgart in das Haus des Landtags.