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Abschied vom »Homo Oeconomicus« und dem perfekten Markt

ÖKONOMEN Die Welt der Wirtschaftswissenschaften liegt seit dem Crash in Trümmern - die Volkswirtschaftslehre muss sich mühsam neu erfinden

25.10.2010
2023-08-30T11:26:07.7200Z
3 Min

Ben Bernanke redete nicht um den heißen Brei herum: "Die Finanzkrise hat der Reputation von Volkswirten nicht gerade gut getan - und das ist verständlich", räumte der Chef der US-Notenbank jüngst in einer Rede an der Princeton University ein. So gut wie alle Ökonomen hätten den Charakter, das Timing und das Ausmaß der Finanzkrise unterschätzt. Zudem hätten die Ereignisse erhebliche Schwachstellen im Theoriegebäude des Fachs offenbart.

Manchmal wiederholt sich Geschichte eben doch: Die zweite Weltwirtschaftskrise hat die etablierte Volkswirtschaftslehre in eine tiefe Sinnkrise gestürzt - so, wie die Große Depression der 30-Jahre die damals vorherrschenden ökonomischen Theorien in Frage gestellt hat.

Zahlreiche Methoden, Theorien und Grundannahmen, die noch vor wenigen Jahren allgemein im Fach akzeptiert waren, sind durch die Krise nachhaltig in Zweifel gezogen - dass Menschen in wirtschaftlichen Fragen stets rational agieren, dass die Märkte im Kern stabil und resistent gegen Krisen sind, dass sie effizient funktionieren und dass Finanz-Innovationen stets etwas Gutes sind. Auf diesen Prämissen fußen quasi sämtliche makroökonomischen Modelle, die in den Notenbanken, Forschungsinstituten und Fakultäten zum Einsatz kommen und die allesamt die Krise weder erklären noch abbilden können. "Unsere Welt", konstatiert der Princeton-Ökonom Alan Blinder, "wurde in nur zwei Jahren komplett umgekrempelt".

Ein funktionierendes Finanzsystem setzten die Forscher bislang so selbstverständlich voraus wie fließendes Wasser und Strom. "Die traditionelle Makro-Sicht bis zur Krise war, dass die grundlegende ökonomische Architektur in den Industrieländern funktioniert und dass wir uns mit den Details des institutionellen Regelwerks nicht weiter beschäftigen müssen", sagt Raghuram Rajan, Professor für Makroökonomie an der Booth Business School der University of Chicago und ehemaliger Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds. Welche Schlüsse aber muss das Fach aus der Misere ziehen? Diese Frage überschattet seit Monaten die wichtigen Konferenzen des Fachs. Einer der Antreiber einer neuen, besseren Volkswirtschaftslehre ist George Soros. Der legendäre Investor hat 50 Millionen US-Dollar in eine Denkfabrik mit dem programmatischen Titel "Institute for New Economic Thinking" (Institut für neues ökonomisches Denken) gesteckt.

Warum gibt es Banken?

Der gesamte Fokus der makroökonomischen Forschung werde sich durch die Krise verändern, sind führende Ökonomen überzeugt. Ein Beispiel dafür ist die scheinbar banale Frage, warum es Banken gibt. Die Erklärung aus den Ökonomie-Lehrbüchern lautet: Banken sind das Scharnier zwischen den privaten Haushalten, die sparen, und den Unternehmen, die Kredite brauchen, um neue Investitionen zu finanzieren. Wer dieses Bild im Kopf hat, für den ist das dramatische Wachstum des Finanzsektors rundweg positiv. Mehr Kredite führen schließlich zu mehr produktiven Investitionen und zu mehr Wachstum und Wohlstand.

Erst im Zuge der Finanzkrise ist Volkswirten bewusst geworden, dass die Realität eine andere ist. "Nur eine Minderheit der Kredite, die Banken vergeben, erfüllt heute diese ökonomische Funktion", sagt Adair Turner, Chef der britischen Finanzaufsicht FSA. Ein Großteil der neuen Kredite, die der Finanzsektor in den vergangenen Jahrzehnten vergeben habe, sei nicht in produktive Investitionen geflossen, sondern etwa für Immobilienspekulationen verwendet worden. Solche Darlehen würden oft keinen gesamtwirtschaftlichen Mehrwert schaffen, aber das Finanzsystem fragiler machen.

Auch in der Geldpolitik wird kaum ein Stein auf dem anderen bleiben. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise waren die führenden Notenbanker der Welt überzeugt: Um Spekulationsblasen brauchen sie sich nicht zu kümmern, ebenso wenig wie um die Kreditvergabe der Banken. Das einzige, was die Geldpolitik für die Realwirtschaft tun könne, sei die Garantie stabiler Verbraucherpreise. Wenn es zu Spekulationsblasen komme, sollten die Notenbanken abwarten, bis diese platzen und dann den Schaden begrenzen - vor allem über niedrigere Leitzinsen. Doch die Krise hat gezeigt: Preisstabilität bedeutet nicht automatisch auch Finanzstabilität. Jetzt weiß man: Notenbanken sollten nicht nur auf die Geldmenge und die Inflationsraten schauen, sondern auch auf die Kreditentwicklung und die Solidität des Finanzsystems.