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Nochmal davongekommen

WIRTSCHAFT Die Welt nach der Krise - Crashs kommen und gehen. Das ist normal - und doch verheerend

25.10.2010
2023-08-30T11:26:07.7200Z
5 Min

Als im Mai 1873 an der Wiener Börse eine Immobilienblase platzte, brach unter den Anlegern in Hochadel, Bürgertum und einfachem Volk eine Panik aus. Von Selbstmorden unter Bankern und Börsenhändlern war die Rede.

Panik war es auch, was die Menschen aller Stände und Länder im Herbst und Winter 2008 erlebten, als Lehman zusammenbrach und die Banken schlagartig aufhörten, einander Geld zu leihen. Der Schock war so groß, dass die Leute keine Autos oder Flachbildfernseher mehr bestellten, die Auto- und Elektrofirmen keine neuen Maschinen mehr orderten und überall die Arbeit fehlte. Aus einer Finanzkrise war mit einem Mal eine große Wirtschaftskrise geworden.

Für einen Moment war die Welt zum Stillstand gekommen, damals, vor zwei Jahren. Das war die Stunde der Apokalyptiker. Je nach Temperament wurde das Ende der Finanzindustrie, die Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit oder der Untergang des Kapitalismus prophezeit. Zumindest die Wiederholung der Großen Depression Mitte des 20. Jahrhunderts, als das Bruttoinlandsprodukt zeitweise um ein Viertel schrumpfte und die Arbeitslosigkeit mehr als dreißig Prozent betrug, schien nicht wenigen ein realistisches Szenario.

Heute wissen wir: Wir sind noch einmal davongekommen. Hatte die Sorglosigkeit der guten Jahre die Menschen verführt, die Risiken des Lebens und der Märkte zu unterschätzen, so brachte der Schock der Krise sie in eine Art Angststarre. Das rechte Maß ist offenbar nicht leicht zu finden. Aber die Distanz, die wir seither wieder gewonnen haben, ermöglich es jetzt zumindest in Nüchternheit zu fragen: Was eigentlich ist passiert? Gewiss, eine Blase ist geplatzt, die einen globalen Wertverlust von acht Billionen Dollar zur Folge hatte. Das hört sich gigantisch an, relativiert sich aber, wenn man weiß, dass auch von den geplatzten Träumen der New Economy in den Jahren 2002 Buchwerte von fünf Billionen Dollar vernichtet wurden. Doch auf das Ende der Dotcom-Begeisterung folgte keine globale Wirtschaftskrise, auf das Ende der Immobilien-euphorie schon.

Dabei lassen sich für diese dramatischen Auswirkungen keine realen, sondern "nur" psychologische Ursachen finden: Gottlob kein Krieg, keine Rohstoffkrise, weder Nachfrage- noch Angebotsschock also, lösten die Rezession aus. Allein die vorweggenommene Erwartung mangelnder Nachfrage ließ tatsächlich die Nachfrage schlagartig zusammen brechen. Und die Auftragsbücher der Unternehmen waren von einem Tag auf den anderen und dann auf Monate hinaus leer.

Wie musste man das verstehen? Jetzt, wo man sie gebraucht hätte, ließen einen die Ökonomen im Stich. Es rächte sich, dass sie es lange vernachlässigt haben, eine Theorie der Rezession zu erarbeiten. In blinder Selbstüberschätzung hatte etwa Nobelpreisträger Robert Lucas noch wenig früher die Auffassung vertreten: "Das zentrale Problem, wie Depressionen zu verhindern sind, ist gelöst". Konsequenterweise herrscht deshalb bis heute unter den Ökonomen keine Einigkeit über die Ursachen der Krise.

Wenigstens der Kreis der verdächtigen Schurken, die die Krise zu verantworten haben, ist umzingelt. Darin spielen gierige Banker, anders als in der öffentlichen Wahrnehmung, eher eine Nebenrolle. In den Hauptrollen sehen wir dagegen wohlmeinende Staaten, die sozialpolitische Ziele verfolgen und nicht ahnten, was sie damit an den Finanzmärkten anrichten konnten. Wir sehen eine amerikanische Zentralbank (ebenfalls eine staatliche Institution), die das Geld (ebenfalls in guter Absicht) zu billig gemacht hat. Und wir sehen, nicht zu unterschätzen, unglückselige globale Ungleichgewichte, wonach einige Staaten es mit dem Sparen übertrieben haben, andere aber - spiegelbildlich - zuviel Geld ausgegeben haben und das, zu allem Überfluss auch noch auf Pump. Künstlich wurden (bis heute!) Währungen fixiert und damit - im protektionistischen Interesse - Ungleichheiten der Leistungsbilanzen zementiert. Der Streit, wem die Hauptschuld zukommt, dürfte müßig sein.

Wenn schon die Ursachenanalyse nicht einfach ist, so nimmt es nicht wunder, dass die Fachleute auch uneins darüber sind, ob letztlich alles wegen oder trotz der gigantischen Summen so glimpflich abging, welche die Staaten zur Rettung eingesetzt haben. Nahezu unbestritten ist nur, dass die Geldpolitiker ihre Sache gut gemacht haben und böse Fehler der dreißiger Jahre vermieden haben. Ob allerdings auch die Fiskalpolitik mit ihren milliardenschweren Konjunkturprogrammen ebenso klug war, darf durchaus bezweifelt werden. Dass bei BASF jetzt wieder Natronlauge und bei Schaeffler Wälzlager bestellt werden, ist jedenfalls kaum dem Umstand geschuldet, dass mit Staatsgeld Schulräume geweißelt und Autobahnen neu asphaltiert wurden.

Schaler Vorgeschmack Dabei ist eines klar: An den Folgen dieser gigantischen Konjunkturprogramme wird die Welt noch lange zu knabbern haben. Denn die Staaten sind durch den Schuldendienst in ihrer Handlungsfreiheit stranguliert. Weil sie dafür ihren Bürgern mehr Steuern abknöpfen müssen, drosseln sie genau jenes Wirtschaftswachstum, welches nötig wäre, um der Schuldenfalle mittelfristig zu entkommen. Ein Schuldenstand jedoch, der jedes Maß verliert, ist ein dauerhafter Wachstumskiller. Griechenland-, Portugal- oder Irlandkrise gaben für das, was auf die Welt zukommen könnte, allenfalls einen schalen Vorgeschmack. Einen Bailout Griechenlands, also die Haftungsübernahme, konnte die Staatengemeinschaft sich noch leisten (ob es klug war, ist eine andere Frage). Einen Bailout Amerikas würde sie dramatisch überfordern. Fast möchte man sagen, die Krisenjahre selbst waren nichts verglichen mit den Lasten, welche die Welt sich in Folge der Krise eingehandelt hat.

Ob die Welt gelernt hat? Sieht man einmal über den hektischen Aktivismus von Bankenabgabe und Bonibeschimpfung hinweg, mit dem die Politiker die Bürger beschwichtigen wollten, sie täten irgend etwas, so sind vor allem die unter dem Titel "Basel III" zusammengefassten neuen Eigenkapitalregeln für Banken ein Fortschritt. Diese werden nämlich dazu führen, dass die Banken ihre - eminent segensreiche - Funktion, die Wirtschaft mit Krediten zu versorgen, künftig besser erfüllen können. Denn sie haben weniger Anreize, übermäßige Risiken einzugehen, eine Unart, die der Bubble-Ökonomie erst richtig Tempo verliehen hat. Von den vielen, häufig sinnlosen, manchmal auch schädlichen Eruptionen staatlicher krisenbedingter Regulierungswucht muss man "Basel" ausnehmen: Es ist eine gute Regulierung.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe weist in seiner "Geschichte der Wirtschaftskrisen" darauf hin, dass die Geschichtswissenschaft es bisher versäumt hat, eine Theorie der Wirtschafts- und Finanzkrise zu schreiben. Auch die Historiker haben offenbar ähnlich wie die Ökonomen das Gefühl, Krisen dürfte es nicht geben, und orientieren sich an utopischen Gleichgewichtsvorstellungen. Dabei ist das zyklische Auf und Ab, der Wechsel von Übertreibung und Ängstlichkeit seit Joseph von Ägypten der ökonomische Normalfall. Wenn aber jede Krise wie eine noch nie dagewesene Naturkatastrophe erscheint, verfallen die Politiker dem irrationalen Aktionismus, und Intellektuelle wie Stammtische ergötzen sich in fundamentalistischem Moralismus.

Gerade das regelmäßige Auftreten von Krisen verbiete die Annahme, ihre Gründe in der Rücksichtslosigkeit Einzelner zu suchen, meinte Karl Marx. Der Mangel einer anständigen Theorie aber - das eigentliche Versäumnis der Historiker und Ökonomen - führt in die Wiederholungsfalle: Ordentliches Wachstum und billiges Geld waren noch immer der Anfang jeder Finanzblase. Schon geht es wieder los.