Piwik Webtracking Image

Hartz-Reform schmeckt nicht allen

TRANSFERS Fünf Euro mehr und ein Bildungspaket - die Opposition will mehr

01.11.2010
2023-08-30T11:26:07.7200Z
6 Min

Katja Kipping wählt heute drastische Worte. Die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um fünf Euro sei "läppisch", schimpft die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion. Die Berechnungsmethoden der Regierung "sind eine Sauerei", ereifert sie sich weiter. Wie "Abnickdackel" verhielten sich ihre Kollegen aus den Fraktionen von CDU/CSU und FDP im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Dort habe Schwarz-Gelb "in Mafia-Manier" die Forderung der Linksfraktion nach alternativen Berechnungen für die Hartz-Sätze verhindert. Kipping, die den Vorsitz des Ausschusses für Arbeit und Soziales innehat und dort gewöhnlich mit ruhiger Hand moderiert, dreht heute rhetorisch voll auf.

Als der Bundestag am vergangenen Freitagmittag erstmals über die neuen Regelsätze für die 6,6 Millionen Hartz-IV-Bezieher debattierte, wurde schnell klar, dass das sozialpolitische Mammutprojekt der Bundesregierung in den kommenden Wochen noch für Grabenkämpfe sorgen wird. Knapp neun Monate nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die alten Regelungen für verfassungswidrig erklärt hatte, haben die Fraktionen von CDU/CSU und FDP nun den Gesetzentwurf (17/3404) vorgelegt - und stoßen damit auf erbitterten Widerstand der Opposition.

Kernpunkte des 254 Seiten dicken Entwurfs ist die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes von 359 auf 364 Euro im Monat und ein Bildungspaket für zwei Millionen bedürftige Kinder, das ihnen bessere Schul- und Berufschancen eröffnen soll.

»Klein-Klein«

Das Urteil der Opposition fällt verheerend aus: Eine "Luftnummer", "Regelsätze nach Kassenlage", der Gesetzentwurf "verhöhnt" mit der Fünf-Euro-Erhöhung die Betroffenen, schimpfte die SPD, "viel Willkür", alles "Klein-Klein", kritisierten die Grünen. Die Opposition klagt über "Rechentricks", hält die Sätze für zu niedrig bemessen und fordert weitreichende Änderungen am Gesetzentwurf.

Karl Schiewerling, der sozialpolitische Sprecher der Unionsfraktion, verteidigte die schwarz-gelben Pläne. Die neuen Regelsätze seien "transparent" und "nachvollziehbar" berechnet, wie es das Verfassungsgericht gefordert habe. Die Karlsruher Richter hätten ausdrücklich nicht die Berechnungsmethode oder die Höhe der Sätze kritisiert. Auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) warb für den Entwurf. Sie wolle die "Versäumnisse" der Hartz-IV-Gesetzgebung von Rot-Grün "heilen", wolle vor allem für Kinder "Mitmachen möglich machen". Zum "ersten Mal" werde das Geld nicht einfach mit der Gießkanne verteilt, sondern gefragt: "Was braucht ein bedürftiges Kind?" und "Wie können wir vor Ort dafür sorgen, dass die Hilfe beim Kind auch ankommt?"

Rund 700 Millionen Euro will die Regierung zusätzlich für Kinder und Jugendliche bereitstellen, deren Hartz-IV-Regelsätze unverändert bleiben sollen. Bedürftige Schülerinnen und Schüler sollen das Geld für Schulausflüge und bestimmte Klassenfahrten bekommen. Für Mappen, Hefte, Zirkel und anderen persönlichem Schulbedarf werden 70 Euro zum 1. August und 30 Euro zum 1. Februar eines jeden Jahres ausgezahlt, heißt es in dem Gesetzentwurf. Dazu kommen das kostenlose Schulmittagessen und bei Bedarf der Nachhilfeunterricht. Zudem soll Kindern und Jugendlichen 10 Euro monatlich zustehen für Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, Musikunterricht und vergleichbare Freizeitaktivitäten.

Neue Strategie

Das Geld dafür bekommen aber in der Regel nicht die Familien selbst in die Hand, sondern die Schulen und die Träger der Angebote. "Wenn die Kinder kommen, fließt das Bundesgeld", wenn die Kinder wegblieben, "bleibt auch das Bundesgeld weg", pries von der Leyen die neue Förderstrategie. "Genau so sollten Bundesmittel effizient eingesetzt werden", sagte die Ministerin. Vom Bildungspaket profitieren sollen auch jene 300.000 Kinder, deren Eltern als Geringverdiener den Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro im Monat bekommen, damit sie erst gar nicht ins Hartz-IV-System rutschen.

Ein weiterer Punkt des Gesetzentwurfs: Künftig sollen Hartz-IV-Empfänger mehr hinzuverdienen können - maximal 20 Euro mehr im Monat als bisher.

"Keiner hat den Stein der Weisen" sagte von der Leyen am Ende ihrer Rede, wohl wissend, dass sie auf die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten angewiesen ist. Schließlich muss der Bundesrat dem Gesetz zustimmen, und dort hat Schwarz-Gelb keine Mehrheit. "Die Tür ist offen", sagte die Bundesarbeitsministerin, "ich bin verhandlungsbereit".

Weil von der Leyen die SPD im Bundesrat brauche, bestehe noch "Hoffnung, dass mit unserer Hilfe ein kranker Gesetzentwurf kuriert wird", konterte Gabriele Hiller-Ohm (SPD) und fügte süffisant hinzu, dass es "schon einer Wunderheilung" bedürfe. Die Arbeitsmarktexpertin kritisierte, dass das Gesetz nun im "Schweinsgalopp durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht" werde.

Das 700-Millionen-Euro-Bildungspaket, so die einhellige Meinung der Opposition, sei unzureichend. Elke Ferner (SPD) sagte, dass die SPD da mehr erwarte. "Auch Niedrigverdiener sollten davon profitieren", forderte die Sozialexpertin. Anette Kramme, ebenfalls SPD, kritisierte, aus dem Paket werde nur die Mitgliedschaft etwa im Sportverein finanziert, "aber nicht die entsprechende Sportausrüstung". Oder etwa im Musikverein, aber "Sie zahlen nicht für ein Musikinstrument", sagte sie.

»Arroganz der Macht«

Auch die Berechnungen der Hartz-IV-Sätze missfallen SPD, Grünen und Linkspartei. Gabriele Hiller-Ohm (SPD) monierte, dass die Opposition nicht weitere Daten und alternative Berechnungen zu den Hartz-IV-Regelsätzen zu Verfügung gestellt bekomme. "Sie missachten das Parlament", sagte Hiller-Ohm, das sei "eine Arroganz der Macht".

Bei ihrer Kritik an den neuen Hartz-IV-Sätzen geht es der Opposition vor allem um zwei Punkte bei der Berechnung. Zum einen um die Wahl der so genannten Referenzgruppe der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die die statistische Grundlage bildet. Das sind jene Haushalte, die drei Monate lang ihre Ausgaben festgehalten hatten und aus deren Konsumverhalten die Höhe der Regelsätze abgeleitet wurde. Beim Regelsatz für Alleinstehende habe die Regierung nicht wie bisher üblich die unteren 20 Prozent der nach Einkommen geschichteten Einpersonenhaushalte herangezogen, sondern sei auf 15 Prozent heruntergegangen.

Tabak und Alkohol

Die Regierung verbreite den "Mythos" (Kipping), der Regelsatz sei von den kleinen Einkommen abgeleitet, also etwa von der Friseurin oder der Verkäuferin. Tatsächlich, kritisierte die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, seien "gerade einmal 20 Prozent Erwerbstätige" in der Gruppe. Der Rest seien Rentner mit niedrigen Einkommen, Studierende und Arbeitslose. "Sie missbrauchen die geringen Renten, die geringen Einkommen von Studierenden und die Armut von Arbeitslosen, um den Regelsatz so niedrig wie möglich zu halten", sagte Kipping.

Zudem kritisiert die Opposition, dass so genannte "verdeckt" Arme in der Referenzgruppe enthalten seien, also Menschen, die eigentlich Ansprüche auf staatliche Leistungen hätten, diese aber nicht wahrnähmen. Das entspreche nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, kritisierte Anette Kramme (SPD), dieses habe gefordert, genau jene Gruppe heraus zu rechnen.

Zweiter Kritikpunkt der Opposition ist die Auswahl der Posten, die beim Verbrauch berücksichtigt wurden. Für ein menschenwürdiges Existenzminimum sind nach Auffassung von Union und FDP nicht alle in der Verbrauchsstichprobe abgefragten 240 Positionen notwendig. Zum Beispiel werden im Hartz-IV-Satz Ausgaben für Glücksspiele, Tabak oder Alkohol nicht berücksichtigt. Neu angerechnet werden Kosten für den Internetanschluss und die Praxisgebühr. Es sei nicht in Ordnung, den Menschen, die von Arbeitslosengeld II leben, zu sagen, dass sie am Wochenende kein Bier trinken gehen dürfen, kritisierte Fritz Kuhn, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen.

"Unser Vorwurf lautet: Sie haben die Kriterien an das angepasst, was die Kasse von Herrn Schäuble erfordert; das entspricht aber nicht den Vorgaben aus Karlsruhe", sagte Kuhn. Die Grünen hatten einen eigenen Antrag für neue Hartz-IV-Sätze eingebracht (17/3435), der in der Debatte mit beraten wurde und in dem sie Hartz-IV-Sätze von rund 420 Euro fordern und zugleich einen Mindestlohn für alle von 7,50 Euro pro Stunde.

Kuhn machte deutlich, worüber Regierung und Opposition in seinen Augen jetzt verhandeln sollten. Man müsse bei den Themen Mindestlohn, Bildungsinfrastruktur und Höhe der Regelsätze zu einer Verständigung kommen.

Die Kritik der Opposition stieß bei der FDP-Fraktion auf Unverständnis. Der Entwurf sei "so transparent wie es ein Entwurf zu Ihren Zeiten niemals gewesen ist", sagte Pascal Kober. Das Verfassungsgericht habe schließlich "Ihre Gesetzgebung kritisiert", rief er in Richtung SPD und Grüne, die Hartz-IV eingeführt hatten. Union und FPD scheuten keine politischen Wertentscheidungen. Danach gehörten Tabak und Alkohol nicht zum Existenzminimum. Es ginge darum, den Sozialstaaten "treffsicher" zu gestalten. "Im Interesse beider Seiten: derjenigen, die den Sozialstaat finanzieren" und derjenigen, die auf ihn angewiesen seien, sagte Kober.