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ORTSTERMIN: INTERNET UND BUNDESTAG : »Emanzipation von der Technologie«

08.11.2010
2023-08-30T11:26:08.7200Z
3 Min

Der Bundestag zum Mitnehmen in der Hosentasche? Die Überraschung war groß, als der Bundestag Anfang September mit einer eigenen App für das iPhone in die Öffentlichkeit ging. "App" steht für das englische "application", also eine Anwendung für internetfähige Handys. Dass das deutsche Verfassungsorgan auf Anhieb wochenlang mit Platz 1 in der Kategorie Nachrichten die beliebteste heruntergeladene Anwendung war, hatte wohl kaum jemand erwartet. In den ersten drei Wochen hatten sich knapp 200.000 Nutzer die App auf ihr Mobiltelefon geladen und überboten sich mit Lob: "Top", "Spitze", "Pflicht-App". "Offenbar wünschen sich viele Bürgerinnen und Bürger Informationen aus erster Hand, um sich selbst ein Urteil bilden zu können", vermutet Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Von Politikverdrossenheit ist - zumindest hier - keine Spur.

Ulrich Schöler, Abteilungsleiter der wissenschaftlichen Dienste beim Bundestag, rühmt vor allem die Einführung von Online-Petitionen, die das Internet ermöglicht habe. Das weltweite Netz habe dem im Grundgesetz verbrieften Recht, eine Petition beim Bundestag einzureichen, einen "immensen Aufschwung beschert". Seit 2005 können Bürger Petitionen, die von allgemeinem Interesse sind, auch online unter epetitionen.bundestag.de einreichen. Sie werden dann in Internetforen diskutiert und unterschrieben. Das Sammeln von Unterschriften in der Fußgängerzone entfällt. Den bisherigen Rekord bei den e-Petitionen hält eine Eingabe gegen Internetsperren, die 2009 von 134.000 Menschen unterzeichnet wurde.

Immer schneller entwickeln sich neue Nutzungsmöglichkeiten des Internets. Auch deshalb beschäftigte sich am vergangenen Mittwoch ein Vortrag des sogenannten "W-Forums", organisiert vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, mit den Auswirkungen des weltweiten Netzes auf Kommunikation und Lebenswelt. Der eingeladene Experte, der Darmstädter Informatikprofessor Thorsten Strufe, sieht die Nutzer des Internets aus der Rolle der Konsumenten mehr und mehr in die Rolle der Produzenten wechseln. Nach dem "Mitmachnetz Web 2.0" entwickle sich augenblicklich die Tendenz zum "Web 3.0", dem persönlichen Netz, in dem Beiträge eindeutig einem Individuum zuzuordnen sind.

Strufe sieht das Web in einer Übergangsphase: "Momentan wissen wir noch nicht genau, wie wir das Internet nutzen sollen." Die heranwachsenden Generationen würden die Möglichkeiten des Netzes bewusster nutzen - und Gefahren bewusster vermeiden. "Es ist die Emanzipation von der Technologie erforderlich", meint der Informatikprofessor. Die Menschen müssten lernen, zwischen der Vielzahl der "Kommunikationswünsche auszuwählen. Die Kurzfristigkeit und ständige Unterbrechungen der Arbeit, des Lernens und Denkens durch die allgegenwärtige Technik bereite die größten Probleme. Eine Veränderung des Lernverhaltens stellt Strufe bei seinen Studenten fest: "Heute fällt es jüngeren Generationen schwerer, sich längere Zeit mit einer Aufgabe konzentriert zu beschäftigten, die sie lösen sollen. Andererseits legen die gleichen Studenten eine viel höhere Kreativität an den Tag, Probleme zu lösen." Das Faktenwissen trete in seiner Bedeutung zurück, weil exaktes Wissen jederzeit im Internet abgerufen werden könne. Die Bedeutung des Wissens um Entwicklungen und Zusammenhänge nehme dafür zu.

Mit Netzpolitik beschäftigt sich auch eine Enquete-Kommission des Bundestages: Sie wurde im Frühjahr 2010 eingerichtet und soll jenseits der Tagespolitik die Auswirkunken der neuen Technologien auf die Gesellschaft untersuchen. Eine Besonderheit: Auch die Bürger werden als Sachverständige in die Arbeit einbezogen. Sie können unter www.bundestag.de/internetenquete mitdiskutieren oder Blogbeiträge der Kommissionsmitglieder kommentieren. Ihre Beiträge werden dann zusammengefasst und in den Sitzungen den Enquete-Mitgliedern vorgestellt.