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Riss durch die Fraktionen

EMBRYONEN Beim Stammzellenimport wählte der Bundestag einen Mittelweg zwischen Freigabe und Verbot

08.11.2010
2023-08-30T11:26:08.7200Z
5 Min

Nach der Debatte herrschte weitgehend Einigkeit im deutschen Blätterwald: Die "Süddeutsche Zeitung" etwa berichtete am 31. Januar 2002 von einer "Weihestimmung im Hohen Haus", dem die "Stuttgarter Zeitung" einen "großen Tag" bescheinigte. Und während in der "Bild"-Zeitung zu lesen war, die Abgeordneten hätten bei der Aussprache "größer, außerordentlicher, bescheidener, kleiner, wahrer" als sonst gewirkt, kam die "Frankfurter Rundschau" zu dem Ergebnis: "In solchen viel zu seltenen Momenten, landläufig ,Sternstunden des Parlaments' genannt, wächst so etwas wie Lust an Demokratie und nebenbei die Achtung des Volks vor seinen Vertretern."

Zu entscheiden hatten diese Volksvertreter am 30. Januar 2002 über die Frage, ob menschliche embryonale Stammzellen zu Forschungszwecken nach Deutschland importiert werden dürfen. Dabei ging es aber "nicht nur um eine Einfuhrregelung für biologisches Labormaterial", wie "Der Spiegel" kurz vor der Abstimmung schrieb: "Es geht um Zellen, die Heilung schwerster Leiden versprechen. Aber um sie zu gewinnen, müssen Embryonen getötet werden."

Drei Gruppenanträge

Nach monatelangen öffentlichen Diskussionen lagen dem Bundestag schließlich drei Gruppenanträge vor, wobei der Riss quer durch die Fraktionen ging: Ein gesetzliches Importverbot forderte ein Antrag von Parlamentariern um den Sozialdemokraten Wolfgang Wodarg, den CDU-Politiker Hermann Kues sowie die damalige Grünen-und spätere Linke-Abgeordnete Monika Knoche, den auch Alt-Kanzler Helmut Kohl (CDU) ebenso unterstützte wie etwa der PDS-Parlamentarier Ilja Seifert. Den Import "für Forschungsvorhaben zur Grundlagenforschung oder zur Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Verfahren" ermöglichen sollte dagegen ein Antrag einer Parlamentariergruppe um die Abgeordneten Ulrike Flach (FDP) und Peter Hintze (CDU). Voraussetzung sollte dabei sein, dass es sich um "im Rahmen der künstlichen Befruchtung nicht genutzte Embryonen handelt, die für hochrangige Forschungszwecke selbstlos gespendet wurden". Zwischen diesen beiden Positionen stand ein von Maria Böhmer (CDU), Margot von Renesse (SPD) und Andrea Fischer (Grüne) formulierter Antrag, der einen eng begrenzten Import bereits bestehender Stammzelllinien mit entsprechender Stichtagsregelung vorsah.

"Sachliche Debatte"

Frei von Fraktionsdisziplin sprachen 40 Parlamentarier in der Aussprache, die der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) kurz nach 13.00 Uhr eröffnete; um 18.30 Uhr konnte sein Vize Rudolf Seiters (CDU) das Ergebnis der entscheidenden Abstimmung verkünden. Dazwischen lag, wie es ein Beobachter formulierte, "eine sachliche Debatte, frei von Polemik und weitgehend frei von Emotion". Und ein anderer machte eine "bemerkenswert ernsthafte Stimmung" aus: "Fast scheint es, als laste ein riesiger Brocken auf den Schultern der Abgeordneten und zwinge sie zum Zuhören".

Für Kues, den ersten Redner, ging es "um die sehr grundsätzliche Entscheidung, ob menschliche Embryonen als Forschungsmaterial verwandt werden dürfen". Es gebe eine "ethische Verpflichtung zum Heilen" und zur Bekämpfung von bislang als unheilbar geltenden Krankheiten, doch nehme die Würde des Menschen "in der Rangordnung der abzuwägenden Güter die erste Stelle ein", begründete Kues die Forderung nach einem Verbot des Stammzellenimports: "Es wäre die nachträgliche Billigung der vorangehenden Tötung der Embryonen außerhalb Deutschlands."

"Wer den Import ablehnt", entgegnete Ulrike Flach, "verzichtet bewusst auf durchaus vorhandene Chancen, Therapien für schwere, lebensbedrohende Krankheiten zu entwickeln". Dabei seien auch "Mitleid, Barmherzigkeit und Hilfe für die Kranken" Grundwerte der Gesellschaft.

Für den Kompromissantrag warb als erste Margot von Renesse: Danach werde "kein Embryo geschädigt", sagte die SPD-Abgeordnete: "Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern geben wir durch die Stichtagsregelung keinen Anreiz, Embryonen zu vernichten, um Stammzelllinien zu gewinnen". Die Christdemokratin Böhmer attestierte, man wolle "nur dort eine Ausnahme erlauben", wo es um bereits existierende Stammzelllinien gehe, "wo Embryonen getötet worden sind, wo wir diese Tötung nicht mehr rückgängig machen können". Ähnlich argumentierte die Grüne Andrea Fischer: "Auch das Lebensschutzgebot des Grundgesetzes gibt uns keine Handhabe, die Forschung an Stammzelllinien zu verbieten, für die Embryonen in der Vergangenheit bereits getötet worden sind."

Fischers Fraktionskollegin und Importgegnerin Knoche lehnte einen "Mittelweg" ab und wandte sich gegen die Auffassung, "der Embryo sei, wenn er die Gebärmutter nicht erreiche, auch kein Mensch". Und Wodarg mahnte, man dürfe niemandem das Recht einräumen, "zu definieren, in welcher Phase seiner Existenz oder aufgrund welcher Kriterien ein Mensch als Mensch gelten darf".

Für die Importbefürworter hielt Ex-CDU-Generalsekretär Hintze dagegen, die Menschenwürde könne auch durch Unterlassen verletzt werden: "Ich kann einen Menschen (...) auch dadurch verletzen, dass ich Leiden oder den abwendbaren Tod sehenden Auges hinnehme, obwohl ich Mittel zu seiner Bewahrung davor habe." Und Katherina Reiche (CDU) verwies zur Frage nach dem Beginn des Lebens auf "gewichtige Gründe, die Einnistung des Embryos in die Gebärmutter als entscheidend anzusehen".

So ging es hin und her, quer über die Fraktionsgrenzen hinweg. Für die Stichtagsregelung warben auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und seine spätere Nachfolgerin Angela Merkel (CDU). Um 18.07 Uhr gab Seiters schließlich das Ergebnis der ersten namentlichen Abstimmung bekannt: 263 Stimmen für "Drucksache 14/8101 - Dr. Wodarg und andere", 225 Stimmen für "14/1802 - Dr. Böhmer und andere" und 106 Stimmen für "14/8103 - Frau Flach und andere".

Damit hatte kein Antrag die erforderliche Mehrheit erhalten, doch war der mit den wenigsten Stimmen, also der Antrag der Importbefürworter, ausgeschieden. In der zweiten namentlichen Abstimmung votierten dann 266 Parlamentarier für ein Importverbot und 339 für die Stichtagsregelung. Damit, freute sich Renesse anschließend vor laufenden Kameras, habe man nach einer sehr ernsthaften Debatte einen Kompromiss gefunden, "der das Auseinanderbrechen unserer Gesellschaft verhindert".

Erneute Entscheidung

Wenige Monate nach dieser Grundsatzentscheidung, am 25. April 2002, beschlossen die Parlamentarier dann die gesetzliche Verankerung der Stichtagsregelung. Nach dem damals verabschiedeten Stammzellgesetz durften nur solche embryonale Stammzellen nach Deutschland importiert werden, die bereits am 1. Januar 2002 vorhanden waren.

Die Regelung hielt sechs Jahre; dann kam das Thema erneut auf der Tagesordnung des Bundestages, da nach Angaben der Wissenschaft mit den verwendeten Zelllinien in Deutschland in absehbarer Zeit nicht mehr hätte gearbeitet werden können. So standen am 11. April 2008 wieder mehrere Vorlagen fraktionsübergreifender Abgeordnetengruppen zur Abstimmung: Eine Gruppe um Ulrike Flach, Katherina Reiche und den SPD-Parlamentarier Rolf Stöckel forderte in ihrem Gesetzentwurf (16/7982 (neu)) die Streichung des Stichtages mit der Folge einer Freigabe der Forschung mit importierten embryonalen Stammzellen; er wurde mit 443 Nein-Stimmen bei 126 Ja-Stimmen abgelehnt. Das gleiche Schicksal erfuhr der Gesetzentwurf einer Gruppe um den CDU-Abgeordneten Hubert Hüppe (16/7983), der auf ein ausnahmsloses Verbot dieser Forschung abzielte und von 118 Parlamentariern befürwortet, aber von 442 abgelehnt wurde.

Stichtag verschoben

Während ein Antrag von Abgeordneten um Priska Hinz (Grüne) und Julia Klöckner (CDU) vorsah, den 2002 beschlossenen Stichtag beizubehalten (16/7985 (neu)), wurde mit dem Gesetzentwurf einer Gruppe um René Röspel (SPD) und Ilse Aigner (CSU) vorgeschlagen, den Stichtag auf den 1. Mai 2007 zu verschieben (16/7981). Diese Vorlage unterstützte auch Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU), die die Schlussdebatte eröffnete. Sie halte die Verschiebung für verantwortbar, "um den schmalen Korridor für die Forschung zu erhalten", sagte Schavan. Dabei gehe es ihr vor allem um jene Forschergruppen, die mit ihrer Arbeit dazu beitrügen, "dass wir dauerhaft zu einer Stammzellforschung kommen können, die ohne den Verbrauch menschlicher Embryonen (...) auskommt".

Während Schavan für eine "Weiterentwicklung" des Stammzellgesetzes von 2002 warb, wandte sich dessen Co-Autorin Böhmer entschieden gegen eine Verschiebung des Stichtages: "Wenn der Bedarf einmal Grund für eine Verschiebung ist, kann er es auch ein zweites und drittes Mal sein. Dann sind wir auf der schiefen Ebene", betonte Böhmer. Diesmal blieb sie mit ihrer Position in der Minderheit: Mit 346 von 580 Stimmen beschloss der Bundestag den neuen Stichtag.