Piwik Webtracking Image

»Wir regieren jetzt mit«

EUROPA Die Abgeordneten im EU-Parlament nutzen ihre neuen Kompetenzen aus dem Vertrag von Lissabon selbstbewusst und oft mit Erfolg. Bei der Euro-Rettung…

13.12.2010
2023-08-30T11:26:11.7200Z
4 Min

Seit das Europäische Parlament (EP) im Jahr 1979 zum ersten Mal direkt gewählt wurde, hat es Schritt für Schritt an Einfluss gewonnen. Der Vertrag von Lissabon, der im vergangenen Dezember in Kraft trat, war jedoch ein echter Quantensprung für die Abgeordneten. Im ersten Jahr mit den neuen Regeln haben die Volksvertreter eindrucksvoll demonstriert, dass sie von ihrem gewonnenen Spielraum Gebrauch machen wollen. "Die Parlamentarier sind durchaus bereit, ihre neuen Einflussmöglichkeiten bis an die Grenzen der Vereinbarkeit mit den EU-Verträgen zu nutzen", urteilen Daniela Kietz und Nicolai von Ondarza in einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Das Parlament schreckt nicht davor zurück, seinen Willen zur Mitbestimmung notfalls auch mit Blockadepolitik zu untermauern."

Wahl der Kommission

Den ersten Beleg dafür gab es gleich im Januar, als die Abgeordneten ihre Zustimmung zur neuen Kommission mit einem stärkeren Mitspracherecht verknüpften. Zunächst zwangen sie Bulgarien nach dem miserablen Auftritt der Kommissarskandidatin Rumania Jeleva personellen Ersatz zu schicken. Dann trotzten die Abgeordneten Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Gegenzug für ihre Zustimmung zum gesamten Kommissarskollegium ein indirektes Initiativrecht ab in der sogenannten Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem EP und der Kommission. Nun kann das Brüsseler Parlament die Kommission zwingen, einen Gesetzesvorschlag vorzulegen. Reagiert diese nicht binnen eines Jahres, muss sie ausführlich Rechenschaft ablegen, warum sie nicht aktiv wird. Mit dieser Möglichkeit, Gesetze anzustoßen, bekommt das EP endlich ein Recht, das für nationale Parlamente längst selbstverständlich ist.

Nein zum Swift-Abkommen

Der Vertrag von Lissabon hat die Anzahl der Politikfelder, in denen das Parlament mitentscheidet, von rund 40 auf 90 erhöht. Die Agrarpolitik, Einwanderung und Asylfragen, Außen- und Sicherheitspolitik sowie internationale Abkommen fallen nun in die Zuständigkeit des Parlaments. Besonders eindrucksvoll haben die Abgeordneten ihren Anspruch mitzureden beim Swift-Abkommen demonstriert, das sie im Februar mehrheitlich ablehnten. Bei der zweiten Verhandlungsrunde mit den Amerikanern hat die Kommission die Forderungen des Parlaments berücksichtigt, bei der Weiterleitung von Bankdaten in die USA im Rahmen der Terrorismusbekämpfung den Datenschutz zu stärken. "So schnell konnte man gar nicht schauen, wie die unsere Forderungen erfüllt haben", freute sich der CSU-Abgeordnete Manfred Weber. "Wir regieren jetzt mit", resümierte sein liberaler Kollege Alexander Alvaro, Berichterstatter für das Thema. Niemand hatte vergessen, dass die Mitgliedstaaten die erste Fassung des Swift-Abkommens einen Tag vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verabschiedet hatten, um das Parlament zu umgehen.

Aufbau des EAD

Auch beim Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) unterstrichen die Abgeordneten ihren Willen, sich in die Außenbeziehungen einzubringen. Hier allerdings konnten sie sich in den sieben Monate währenden Verhandlungen nicht vollständig durchsetzen. Sie scheiterten mit ihrer Vorstellung, den EAD der Kommission zu unterstellen. Dies wäre den Mitgliedstaaten zu weit gegangenen. Allerdings sicherten sich die Abgeordneten ein Kontrollrecht über den EAD-Haushalt.

Reaktion auf die Finanzkrise

Die Muskeln spielen ließen die Abgeordneten bei zwei Gesetzesinitiativen, mit denen die EU auf die Finanzkrise reagierte. Sowohl bei der neuen europäischen Finanzmarktaufsicht als auch bei der Regulierung der Hedge Fonds kam dem EP der knappe Zeitplan entgegen. In beiden Fällen wollten die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten das Gesetzgebungsverfahren in erster Lesung abschließen. Schließlich sollten die drei neuen Finanzaufsichtsbehörden pünktlich zum 1. Januar 2011 ihre Arbeit aufnehmen. Außerdem wollte die EU rechtzeitig zum G20 Gipfel im November scharfe Regeln für Hedge Fonds vorweisen können.

In beiden Fällen erreichten die Abgeordnete Zugeständnisse. So setzten sie durch, dass die europäischen Aufsichtsbehörden für die Banken, die Versicherer und die Börsen ein Durchgriffsrecht bekommen, was Großbritannien, aber auch Deutschland zu verhindern suchten. "In Streit und Krisenfällen hat die EU-Aufsicht das letzte Wort", betont der Berichterstatter der EVP-Fraktion für die Architektur der Bankenaufsicht, Markus Ferber. Der Grüne-Abgeordnete Sven Giegold spricht von einem "Meilenstein". Zu weit ging den Mitgliedstaaten dagegen der Wunsch der Parlamentarierer, alle drei Behörden in Frankfurt anzusiedeln. Sie sind auf London, Paris und Frankfurt verteilt.

Bei der Regulierung von Hedge Fonds und privaten Beteiligungsgesellschaften siegte das Parlament nicht so triumphal. Die Abgeordneten hatten strengere Regeln gewünscht. Beschlossen wurde, dass Fonds-Manager einen "Pass" beantragen müssen, für den sie ihre Anlagestrategie und ihre Bewertungsmethoden offenlegen müssen. Ziel ist mehr Branchentransparenz. Die Auflagen für die privaten Beteiligungsgesellschaften sollen verhindern, dass übernommene Unternehmen ausgeplündert werden.

Europäische Bürgerinitiative

Ihre Handschrift haben die Abgeordneten auch bei der Europäischen Bürgerinitiative hinterlassen, einer weiteren Neuerung im Lissabon-Vertrag. Voraussichtlich ab 2012 sollen EU-Bürger die Kommission zu einer Gesetzesänderung auffordern können, wenn sie eine Million Unterschriften gesammelt haben. Auf Druck des EP wurden die Hürden für die Bürgerbegehren gesenkt. Jetzt müssen die Unterschriften nur aus einem Viertel der Länder kommen und nicht wie vorgesehen aus einem Drittel. Das EP setzte auch durch, dass jede Initiative eine Anhörung vor den Abgeordneten bekommt.

Euro-Rettungsaktion

In manchen Bereichen mussten sich die Abgeordneten dagegen mühsam Gehör verschaffen. Bei den schwierigen Haushaltsverhandlungen (siehe Seite 12) hatten die Parlamentarier mitunter das Gefühl, dass die Mitgliedstaaten noch gar nicht verstanden haben, welche Mitspracherechte der Lissabon-Vertrag dem Parlament beim Thema Haushalt zugesteht. Verärgert hat die Abgeordneten auch, dass die Mitgliedstaaten das Parlament bei den Euro-Rettungsaktionen weitgehend ignoriert haben. Im Juni kritisierten die Vorsitzenden von Konservativen, Sozialisten, Liberalen und Grünen in seltener Einmütigkeit in einem gemeinsamen Aufruf, dass die Mitgliedsländer zu oft Entscheidungen im Hinterzimmer träfen, ohne das Parlament zu konsultieren. Sie drohten, wichtige Gesetzgebung zu blockieren. Die Drohung ist ernst zu nehmen.