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Schleichende Unterwanderung

MEXIKO Instrumentalisierte Justiz, undurchsichtige Wahlkampffinanzierung - über die Nähe von Politik und Mafia

13.12.2010
2023-08-30T11:26:11.7200Z
6 Min

Zu seinem Amtsantritt als Bundesabgeordneter fuhr Julio César Godoy im Kofferraum vor. Schließlich war er zur Verhaftung ausgeschrieben, wegen mutmaßlicher Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Parteifreunde schmuggelten ihn im September in den schwer bewachten Kongress in Mexiko-Stadt. Dort legte er seinen Amtseid ab und genießt seither parlamentarische Immunität. Godoys 15-monatige Flucht seit seiner Wahl 2009 war zu Ende.

Vergeblich fordert die Bundesstaatsanwaltschaft vom Abgeordnetenhaus die Aufhebung von Godoys Immunität. Viele der 500 Abgeordneten der unteren Kammer weigern sich jedoch, sei es aus parteipolitischem Kalkül gegenüber Godoys Linkspartei PRD, einem potenziellen künftigen Bündnispartner, oder sei es aus Einsicht, dass es auch andere Abgeordnete treffen könnte. Präsident Felipe Calderón von der christkonservativen PAN gebrauchte daraufhin im November erstmals das Wort "Narcopolitik", das die Verbindung von Mafia und politischen Institutionen suggeriert. Seine Erkenntnis: "Viele kriminelle Phänomene lassen sich nicht ohne politische Deckung erklären."

Mit abgeschnittenen Köpfen, zerstückelten Leichen und grausam inszenierten Hinrichtungen macht Mexikos Mafia Schlagzeilen. Mehr als 10.000 Menschen starben im ablaufenden Jahr bei Auseinandersetzungen der Kartelle untereinander und mit den staatlichen Sicherheitskräften. Das sind so viele wie noch nie. 45.000 Soldaten setzt Calderón inzwischen in seinem rechtsstaatlich fragwürdigen "Drogenkrieg" ein. Doch das Morden nimmt zu, und ebenfalls die Brutalität.

Wie weit die Politik bereits von der Mafia infiltriert ist, ist umstritten. Jürgen Klimke (CDU), Vorsitzender der Deutsch-Mexikanischen Parlamentariergruppe im Bundestag, zeigt sich gelassen: "Ich sehe derzeit keine Gefahr, dass die politischen Institutionen (Mexikos) von der Mafia massiv unterwandert werden, da deutlich ist, dass die Idee der wehrhaften Demokratie in allen Parteien Grundkonsens ist".

Das gegenteilige Bild zeichnet Edgardo Buscaglia, UN-Berater für Organisierte Kriminalität: "Die mafiöse Regierung von Calderón ist von kriminellen Gruppen kontrolliert", sagt der Professor der Universität ITAM in Mexiko-Stadt. Vorsichtiger formuliert es Frank Priess, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko. Er bezeichnet den Fall Godoy als "Spitze des Eisbergs". Keine der drei großen Parteien, die regierende PAN, die linke PRD und die einst alleinherrschende Staatspartei PRI sei dabei ausgenommen. "Man muss davon ausgehen, dass es Komplizenschaft gibt. Das geht ganz nach oben rauf", sagt der langjährige Kenner der mexikanischen Politik.

Lokale Abkommen

Belege für eine massive Unterwanderung der Politik durch die Mafia gibt es vor allem in den Kommunen. Im Mai verhafteten die Behörden den Bürgermeister der Touristenmetropole Cancún, Gregorio Sánchez (PRD), wegen Verdachts auf Mafiaverbindungen. In San Pedro Garza García pries der Bürgermeister Mauricio Fernández gar öffentlich sein Abkommen mit dem Kartell der Gebrüder Beltran Leyva, einem von sieben berüchtigten Kartellen in Mexiko. Das verschaffe dem Ort schließlich Sicherheit, argumentierte Fernández.

Erfolgreich sind solche lokalen Abkommen nicht unbedingt. Im laufenden Jahr wurden in Mexiko zwölf Bürgermeister ermordet. Rund 100 wurden Opfer von Aggressionen oder Todesdrohungen. Die Unterwanderung verläuft schleichend, warnt Priess: "Erst dulden sie das Organisierte Verbrechen, dann arbeiten sie mit ihm zusammen, dann ordnen sie sich ihm unter."

Laut Buscaglia kontrolliert die Mafia acht Prozent von Mexikos 2.441 Kommunen. In weiteren 50 bis 60 Prozent ist sie präsent. Das geht von unterbezahlten Gemeindepolizisten, die die Mafia gegen Gehaltsaufbesserung dulden, bis hin zu führenden Beamten unter der Fuchtel eines Narcobosses. Wer nicht spurt, zahlt mit dem Leben, nach dem Motto Geld oder Blei. So starb kürzlich die lokale Polizeichefin Hermila García im Kugelhagel. Bei ihrem Amtsantritt 51 Tage zuvor hatte sie angekündigt, sich nicht korrumpieren zu lassen.

Evident ist die Unterwanderung auch auf Ebene der 32 Bundesstaaten. Im Mai lieferte Mexiko den ehemaligen Gouverneur von Quintana Roo, Mario Villanueva, in die USA aus. Dort wird ihm der Prozess gemacht - wegen Drogenhandels.

Von der Lokalpolitik zieht sich der rote Faden bis ins Bundesparlament und die Bundesregierung. So im Fall von José Guillermo Anaya, derzeit Senator. Er soll in seinem früheren Amt als Bürgermeister der Stadt Torreon den Mafiaboss Sergio Villarreal beim Kokainschmuggel unterstützt haben. Das jedenfalls gab Villarreal nach seiner Verhaftung im September gegenüber der Staatsanwaltschaft zu Protokoll.

Noch schwerer sind die Vorwürfe gegen Senator Ulises Ramírez. In seinem früheren Amt als Stadtpräsident soll er dem Kartell der Gebrüder Beltran Leyva den an die Hauptstadt angrenzenden Bundesstaat Mexiko exklusiv als Operationsgebiet zugesichert haben, in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium. Das behauptet zumindest die Enthüllungsjournalistin Anabel Hernández in ihrem diesen Monat erschienen Buch "Los Señores del Narco" (Die Herren der Drogenmafia). Sie stützt sich auf Aussagen eines Armeegenerals, der über Kontakte zwischen Bundesregierung und Mafia berichtete.

Niemand weiß genau, was an all den Vorwürfen dran ist, niemand kann es wissen. Mexikos Justiz bringt kaum Licht ins Dunkel. Der schwerfällige Apparat löst im Durchschnitt zwei von 100 Verbrechen. Und je weiter oben Täter und Opfer angesiedelt sind, desto weniger wagen Staatsanwälte, tätig zu werden. "In bestimmten Bereichen wird nicht richtig ermittelt", klagt Priess.

Teure Wahlkampagnen

Hinzu kommt die verbreitete Instrumentalisierung der Justiz. So erklärte der im Kofferraum eingeschleuste Abgeordnete Godoy, Opfer politisch motivierter Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft zu sein und wies auf einen anderen offensichtlichen Justizskandal hin: Im Sommer verhafteten die Behörden kurz vor den Regionalwahlen zehn Bürgermeister im Bundesstaat Michoacan, wegen des Verdachts auf Mafiaverbindungen. Inzwischen sind alle wieder frei - mangels Beweisen.

Indiz für einen Einfluss der Mafia auf höchster politischer Ebene sind die "absurd teuren Wahlkampagnen" (Priess), die sich Mexiko leistet. Sie speisen sich unter anderem aus der im internationalen Vergleich rekordhohen staatlichen Parteienfinanzierung. So hat die Regierungspartei PAN in einem normalen Jahr drei Mal so viel Geld zur Verfügung wie ihre deutsche Schwesterpartei CDU in einem Bundestagswahljahr.

Selbst diese üppigen Summen reichen aber nicht aus für die Lawinen von TV-Spots, die mexikanische Politiker im Wahlkampf zu schalten pflegen. "Wo kommen die Gelder her?", fragt Priess und resümiert: "Die Sache ist hochgradig intransparent." Mafia-Experte Buscaglia schätzt, dass 50 bis 70 Prozent der Wahlkampagnen auf Bundesebene aus dubiosen Quellen stammen. Dabei stützt er sich auf vertrauliche Informationen eines Geheimdienstes. Die Wahlkampfspenden kommen oftmals von in Mexiko legalen Unternehmen, die jedoch in den USA oder der EU auf den schwarzen Listen stehen, weil sie mutmaßlich als Deckmantel für Geldwäsche oder Drogenhandel dienen.

Beispiel ist Mafiaboss Carlos Montemayor. Bis zu seiner Verhaftung im November spielte er unter anderem Namen einen erfolgreichen Unternehmer. Auf der Gästeliste seiner pompösen Pferderanch vor den Toren von Mexiko-Stadt figurierten unter anderem die Bundesabgeordneten David Sánchez (PRI), Miguel Pompa (PRI) und Ricardo Sánchez (PAN). Zu Gast bei Montemayor war auch Enrique Peña Nieto, Gouverneur des Bundesstaates Mexiko und derzeit Favorit für die Präsidentschaftswahl 2012.

Untersucht werden solche dubiosen Beziehungen in Mexiko nicht, weder von der Justiz noch von der Wahlaufsichtsbehörde. In den 20 Jahren ihres Bestehens deckte sie nicht einen einzigen Fall illegaler Finanzierung auf.. "Das ganze System ist darauf angelegt, korrumpiert zu werden", zeigt sich Buscaglia überzeugt.

Vorreiter Kolumbien

Dass es auch anders geht, bewies Kolumbien. In den vergangenen Jahren wurde dort ein Drittel der nationalen Parlamentarier verhaftet, wegen Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen. Voraussetzung dafür war laut Buscaglia ein "politischer Pakt", das Problem ganz oben anzupacken, nachdem die Gewalt unerträglich wurde.

Für Mexiko empfiehlt Buscaglia dasselbe Vorgehen. Nicht die Armee allein werde die Mafia stoppen und schon gar nicht eine Liberalisierung der Drogen, die nur knapp die Hälfte der Geschäfte der Mafia ausmachen. "Mexikos Gewalt ist ein politisches Problem", urteilt Buscaglia. Seine Vision: "Wenn der politische Konsens da ist, werden auch die Staatsanwälte anfangen, richtig zu ermitteln. Wenn erst einmal Dutzende von Gouverneuren und Parlamentariern festgenommen werden, wird sich etwas ändern."