Ein einziges Mal hat Gangolf Stocker eine der Stuttgarter Montagsdemos verpasst: Da machte er einige Tage Urlaub im Schwarzwald und konnte nicht kommen. Bei allen anderen Protestversammlungen gegen den Bau des neuen, unterirdischen Bahnhofes in Stuttgart war er dabei - von Nieselregen oder Schnee lässt sich der 66-Jährige nicht abschrecken.
Durch sein Engagement gegen "Stuttgart 21" hat es Gangolf Stocker zu einer gewissen Prominenz gebracht: In überrregionalen Zeitungen erschienen Porträts des unbeugsamen Bahnhofs-Gegners, die Financial Times Deutschland ernannte ihn zum "härtesten Gegner für Stuttgart 21".
Am Anfang waren es nur eine Handvoll Aktivisten, die gegen das geplante Bahnhofsprojekt kämpften. "Damals waren noch zwei Drittel der Bevölkerung für Stuttgart 21", erzählt Stocker. Er sichtlich zufrieden, dass es inzwischen weit weniger Unterstützer gibt. Dass Gangolf Stocker zu einem prominenten Gesicht der Proteste gegen Stuttgart 21 geworden ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Schließlich gilt die Bewegung gegen den Bahnhofsneubau als Prototyp eines neuen, bürgerlichen Protestes, getragen von rechtschaffenen Angehörigen der Mittelschicht. Gangolf Stocker hingegen war jahrelang Mitglied der Kommunistischen Partei, arbeitete für die PDS und ist Stadtrat des linken Bündnisses "Stuttgart Ökologisch Sozial", das mit der Linkspartei zusammenarbeitet.
Mitte der 90er Jahre sei es ein "linker Haufen" gewesen, der sich im Protest gegen den Umbau zusammengefunden habe, erzählt Stocker: "Fünf Milliarden Mark - so hieß es damals - um einen Bahnhof zu vergraben, das haben wir nicht eingesehen". Er habe schon früh erkannt, dass man auch das "bürgerliche und das großbürgerliche Lager" in Stuttgart einbeziehen müsse, wenn man was ausrichten wolle, erzählt Stocker. Obwohl der Sohn eines Hilfsarbeiters mit solchen Leuten sonst wenig zu tun habe.
Während bei den Montagsdemos viele dabei sind, die vorher noch keinmal auf einer Demonstration waren, geriet Stocker schon jung in Konflikt mit den Autoritäten: Er verweigerte Bundeswehr und Zivildienst, saß zwei Wochen in Haft, wurde verurteilt und floh nach Frankreich, wo er sich im Verband der Kriegsdienstverweigerer engagierte.
Dann kehrte er zurück, gründete eine Familie, brauchte ein Auskommen und arbeitete 25 Jahre lang als Sachbearbeiter bei einem Stuttgarter Verlag. Ein Jahr nach Berufsantritt gründete er mit anderen einen Betriebsrat, an dessen Spitze er 13 Jahre lang stand.
Heute ist er hauptberuflicher Protestierer und genießt die neue Aufmerksamkeit: Nach den Montagsdemos klingelt alle fünf Minuten sein Handy, Journalisten erkundigen sich nach den Teilnehmerzahlen der gerade zu Ende gegangenen Versammlung.
Vielen gilt Stocker als Vertreter radikaler Ansichten mit dubioser politischer Vergangenheit. Doch den Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart 21 schloss sich Stocker an - und sah sich daraufhin Protesten von noch radikaleren Gegnern ausgesetzt. Auch ist er für die Einhaltung von Vereinbarungen: Als Demonstranten die Straße nach einer Montagsdemo nicht zur ausgemachten Zeit räumen, ärgert ihn das sichtlich: "Das schafft uns keine Freunde."
Den Schlichterspruch Heiner Geißlers hat Stocker kritisiert, die Montagsdemos organisiert er weiterhin: Sie sind sein Baby, er hat sie entstehen und wachsen sehen. Und als ein Protest-Blasorchester nach der Demonstration noch durch die Bahnhofshalle zieht, blickt er den Jugendlichen nach wie ein stolzer Vater.