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Casino-Kompromiss empört weiter

EU-PARLAMENT Konfliktreiches Arbeitsprogramm - Defizitsünder im Fokus der Abgeordneten

17.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
4 Min

Aufgewertet durch den Vertrag von Lissabon haben sich die Abgeordneten des Europäischen Parlaments im vergangenen Jahr selbstbewusst und streitlustig gezeigt. Daran wird sich in diesem Jahr nichts ändern. Das Arbeitsprogramm für 2011 lässt bereits viele Konfliktpunkte mit den Mitgliedsstaaten erkennen.

Das Pensum der Abgeordneten wird in diesem Jahr steigen. 2010 war ein Jahr des Übergangs, weil die EU-Kommission erst im Februar verspätet ihre Geschäfte aufnahm und es eine Weile dauerte, bis die Brüsseler Gesetzgebungsmaschinerie startete. Doch nun läuft sie im gewohnten Tempo.

Eurozone

Wirtschaftliche Themen werden in diesem Jahr im Mittelpunkt stehen. Der wichtigste und zugleich am meisten umstrittene Komplex, mit dem sich die Europa-Parlamentarierer befassen müssen, ist der Umbau der Regeln für die Eurozone. EU-Währungskommissar Olli Rehn hat dazu Vorschläge vorgelegt. Konkret werden die Europa-Abgeordneten über die Funktionsweise des Defizitverfahren beraten und über das Frühwarnsystem in der Eurozone. Gleichzeitig wollen sie auch beschließen, wie die Eurozone mit makroökonomischen Ungleichgewichten in den 17 Mitgliedsstaaten umgehen soll. Voraussichtlich im März wird der zuständige Ausschuss für Wirtschaft und Währung entscheiden. Die Kommission kann sich mit ihrer Zeitplanung allerdings nur durchsetzen, wenn die Dossiers in erster Lesung verabschiedet werden. Das verleiht den Europa-Abgeordneten gegenüber den Mitgliedsstaaten Macht - die sie mit Sicherheit nutzen werden. Als im vergangenen Jahr unter ähnlichem Zeitdruck über die europäische Finanzmarktaufsicht verhandelt wurde, konnten die Abgeordneten gegenüber den Mitgliedstaaten erhebliche Konzessionen durchsetzen.

Das möchten die Abgeordneten nun gerne wiederholen. Sie haben nicht vergessen, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy in Deauville im Alleingang neue Euro-Regeln präsentierten. "Dieses selbst ernannte deutsch-französische Direktorium ist ein Anschlag auf die Institutionen der Europäischen Union", ärgerte sich der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (EP), Martin Schulz. Sein liberaler Kollege Guy Verhofstadt sprach empört von einem Casino-Kompromiss. Vor allem bei den Sanktionen für Defizitsünder wünschen sich die Europa-Abgeordneten eine sehr viel strengere Herangehensweise.

Thema Finanzkrise

2011 wird sich das Europäische Parlament auch weiterhin mit den Folgen der Finanzkrise beschäftigen. In der zweiten Jahreshälfte werden die Abgeordneten über die Richtlinie zu Basel III abstimmen, die den Banken höhere Eigenkapitalquoten vorschreibt. Umstritten sind noch die genaue Definition von Eigenkapital und die Übergangsfristen.

In diesem Jahr werden die Verhandlungen zur finanziellen Ausstattung der EU für den Zeitraum 2014 bis 2020 anlaufen. Die EU-Kommission will im Sommer dazu einen Vorschlag vorlegen. Der Vertrag von Lissabon hat den Europa-Abgeordneten beim Thema Haushalt mehr Einfluss gegeben als zuvor. Die Europa-Parlamentarier legen großen Wert darauf, von Anfang an in die Verhandlungen über die finanzielle Vorausschau eingebunden zu werden.

Justiz und Inneres

Im Bereich Justiz und Inneres hat der Vertrag von Lissabon das Europäische Parlament ebenfalls aufgewertet. Voraussichtlich im Juni wird das Plenum über den Beitritt von Rumänien und Bulgarien in die Schengen-Zone entscheiden. Möglicherweise im Mai steht eine Abstimmung zu den Fluggastdatenabkommen zwischen der EU und den USA sowie mit Australien an. Es könnte ein Thema abgeschlossen werden, um das schon lange gerungen wird: die Verbraucherrechte-Richtlinie. Bisher gelten in Europa Mindeststandards, über die manche EU-Mitgliedsländer allerdings wesentlich hinausgehen. Dadurch entstanden in Europa höchst unterschiedliche Regeln, was den einzelnen Unternehmen eine einheitliche Vermarktung erschwert. Gleichzeitig fürchtet die Wirtschaft allerdings, dass eine Angleichung der Verbraucherrechte auf hohem Niveau erfolgen könnte und so die Unternehmen zusätzlich belastet würden. Der Binnenmarktausschuss wird Ende Januar über den Bericht des Abgeordneten Andreas Schwab (CDU) abstimmen. Ein Votum im Plenum könnte möglicherweise im Mai stattfinden. Mit Sicherheit abgeschlossen wird eine Richtlinie, die schon lange Zeit in Arbeit war. Die Abgeordneten in Straßburg stimmen über die grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistungen ab. Dank der Richtlinie können Patienten künftig leichter im EU-Ausland behandelt werden.

Langwierige Auseinandersetzungen mit den Mitgliedsstaaten könnte es bei der Überarbeitung des ersten Eisenbahnpakets geben. Die EU-Kommission hatte im Herbst eine sehr milde Neufassung der drei betroffenen Richtlinien vorgelegt, die etwa keine schärfere Trennung von Netz und Betrieb auferlegt, wie es sich viele Parlamentarierer erhofft hatten. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses, Brian Simpson, führte die sanfte Linie auf den Druck von Deutschland und Frankreich zurück, die keine harten Auflagen wollen. Die Debatten zur Eisenbahnliberalisierung versprechen Spannung.

Die Abgeordneten werden sich auch mit altbekannten Themen beschäftigen. So steht die zweite Lesung zur der Lebensmittelkennzeichnung an. Die Berichterstatterin Renate Sommer (CDU) erwartet schwierige Verhandlungen. So wollen die Mitgliedstaaten beispielsweise nicht, dass Lebensmittelimitate wie Formfleisch als solche bezeichnet werden müssen.

Längerer Mutterschutz

Beim Thema Mutterschutz steht dem Parlament ebenfalls eine Auseinandersetzung bevor. In einer Kampfabstimmung hatten sich die Abgeordneten 2010 für eine Ausweitung des Mutterschutzes von mindestens 14 auf 20 Wochen ausgesprochen. Für eine solche Verlängerung gibt es unter den Mitgliedstaaten keine Mehrheit. Im Rat ist maximal ein Mutterschutz von mindestens 18 Wochen konsensfähig. Auch die sogenannte Euro-Vignette liegt auf Wiedervorlage. Das komplizierte Dossier, bei dem externe Kosten wie Lärm und Stauzeiten in die Lkw-Maut eingerechnet werden sollen, könnte abgeschlossen werden. Sicher ist es allerdings nicht, da es sich um eine außerordentlich komplexe Materie handelt.