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Kein Markt ohne Moral

WIRTSCHAFT Verantwortung der Eigentümer wird oft vergessen - Staatskapitalismus und Liberalsozialismus sind fast austauschbar

17.01.2011
2023-08-30T12:16:35.7200Z
6 Min

Über die Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise gibt es inzwischen eine Fülle von Literatur, die mit empirischen Daten vollgestopft ist. Leider kommen die Publikationen etwas zu spät. Wir hätten gerne schon vor einigen Jahren mehr von realistischen Einschätzungen der Gefahren der globalen Finanzwelt erfahren. Und von einem verantwortlichen Umgang mit Derivaten und Zertifikaten gehört. Es fehlte an kritischen Diagnosen einer Krankheit, die sich wie eine Epidemie verbreitete. Ganz zu schweigen von einer kritisch warnenden Prognose möglicher Folgen. Die wenigen, die sich daran wagten, wurden als unzeitgemäße Unheilspropheten abgetan, die die modernen Wachstumserwartungen hintertrieben.

Die Stamokap-Theorie

Eine apokalyptische Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise konnte einstweilen nur abgewendet werden durch massive Staatseingriffe in die Finanzmärkte. So massiv, daß man von einer partiellen Verstaatlichung reden kann. Bestätigt sich jetzt die altlinke "Stamokap"-Theorie, wonach der Staat als Reparaturwerkstatt des Kapitalismus zu gelten hat?

Nun wird uns nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine neue Systemdebatte aufgezwungen. Hierzulande haben wir lange Zeit aus guten Gründen den polemischen Begriff "Kapitalismus" gemieden. Unser ganzer Stolz war die soziale Marktwirtschaft. Sie ist sogar noch in ihrer verstümmelten Form sehr erfolgreich gewesen. Überdies ließ sie sich ganz gut vereinbaren mit der naturrechtlichen Eigentumslehre, der katholischen Soziallehre und dem Subsidiaritätsprinzip.

Demnach liegt die Ordnungskraft des Privateigentums vor allem in der Verantwortlichkeit der Eigentümer. Der Staat sollte vor allem einen rechtlichen Ordnungsrahmen bilden, innerhalb dessen sich die Initiative der Akteure verantwortlich zu bewähren hat. Was bleibt aber von dieser freiheitlichen Ordnung übrig, wenn die Kapitaleigentümer oder deren Manager die Risiken nicht mehr beherrschen und tragen? Und wenn sie nur Gewinne einstreichen, die Verluste aber auf den Staat abwälzen wollen?

Vergessen ist die alte Einsicht, daß die Marktwirtschaft zwingend Privateigentümer voraussetzt, die bei richtigen Entscheidungen vom Markt (nicht vom Staat) mit Gewinn belohnt, bei falschen mit Verlust bestraft werden.

Höhere Moral?

Diese marktimmanente Sanktion muß als Disziplinierung allzu waghalsiger Entscheidungen erhalten bleiben. Sonst bleibt nur noch der Staat, der die "Anreize" nach Belieben setzt und das politisch gewünschte Verhalten rechtlich erzwingt. Dann ist es aber aus mit der wirtschaftlichen Freiheit. Und vorbei mit wirtschaftlicher Effizienz und Prosperität. Politiker zeichnen sich weder durch tiefere ökonomische Kenntnisse noch durch höhere, den Unternehmern überlegene Moral aus.

Um der verantwortlichen Freiheit der Wirtschaftssubjekte willen pochen wir jetzt verstärkt auf die Moral der einzelnen. Als Moral noch religiös verankert war, trug sie erheblich zur Disziplinierung der Willkür und zur Sinnerfüllung der Freiheit bei. Jetzt, da sie ihre christliche Bodenhaftung weitgehend verloren hat, wird sie oft selber zur Willkür.

Immerhin beklagt man nun den Verlust von Werten. Vertrauen und Glaubwürdigkeit werden überall beschworen, vor allem von jenen, die diese Ressourcen leichtsinnig verspielt haben. Die Zehn Gebote werden wieder entdeckt, die Tugenden neu gefordert. Aufregender als Tugenden sind freilich die abschreckenden Laster, die sich auch besser verfilmen lassen: Hochmut, Neid, Zorn, Maßlosigkeit, Gier, Wollust und Trägheit. Vor diesen Lastern haben uns schon die frühchristlichen Theologen gewarnt, ohne die Rettung der Marktwirtschaft im Blick zu haben.

Der Markt entbindet nicht nur Kräfte der Selbstheilung, sondern auch der Selbstzerstörung. Zur Abwehr destruktiver Potenzen entwickelten die ordoliberalen Vordenker bereits Institutionen und Instrumente, mit denen sich Kartelle und Monopole wirksam bekämpfen ließen. Ein erweiterter Ordnungsrahmen wird die gesamte Weltwirtschaft umfassen und dabei besonders die Finanzwirtschaft ergreifen müssen. Denn der "Marktmechanismus" - ein antiquierter und irreführender Ausdruck - funktioniert nicht wie eine Maschine. Erst recht verhalten sich Menschen, die sich im Wettbewerb auf dem Markt begegnen, nicht wie Automaten. Als freie Subjekte bleiben sie letztlich unberechenbar. Aber ohne moralische Regeln, die für alle gelten, erreichen sie kein gegenseitiges Vertrauen. Eine für alle geltende Moral läßt sich eigentlich nur von Gott her denken, also religiös begründen. Und ohne die moralische Bewährung seiner Subjekte zerfällt auf Dauer das schönste System.

Unsichere Zeiten

Soviel ist sicher: Wir leben in Zeiten der Unsicherheit. In diesen Zeiten erfreut sich die Polizei höchster Wertschätzung. Wer sonst könnte uns vor wachsender Gewalt schützen, die öffentliche Ordnung bewahren und die Einhaltung der Gesetze überwachen? Nach jüngsten Meinungsumfragen genießt die Polizei bei den Bürgern ein weitaus höheres Vertrauen als Wirtschaft, Politik - und auch Kirche. Deren Repräsentanten müssen sich demoskopisch fragen lassen, woher dieser dramatische Vertrauensschwund kommt. Bedauerlich ist dieser Rückgang vor allem deshalb, weil die hohen Erwartungen in Wirtschaft, Politik und Kirchen in den letzten Jahren erheblich enttäuscht worden sind.

Vielleicht sind aber auch die Erwartungen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit von Unternehmern, Politikern und Kirchenleuten zu hoch. Einiges deutet auf ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis hin. Und auf obrigkeitsstaatliche Tendenzen in einer Gesellschaft, die von Krise zu Krise torkelt. Daß aus dieser Unsicherheit die Sehnsucht nach einer starken Führung mit aufrechtem Gang erwächst, die in die richtige Richtung vorangeht, verwundert nicht. Das aber ist kein Polizeiproblem.

Die sich jahrelang hinschleppenden Krisen haben auch moralische Ursachen, die auf religiöse Defizite verweisen. Allenthalben hat man sich über moralische Mängel in Wirtschaft und Politik beklagt, die keineswegs durch Polizeiaktionen bereinigt werden können. Die Moralprobleme wurden hauptsächlich bei den Eliten ausgemacht, deren Fehlverhalten angeprangert wird. Inzwischen hat sich die Moralkritik am lasterhaften Verhalten der Verantwortlichen auch auf die Systemebene ausgedehnt. Denn auch die freiheitlichen Ordnungen von Demokratie und Marktwirtschaft stehen jetzt verstärkt in der Kritik.

Starke Persönlichkeiten

Starke charismatische Führerpersönlichkeiten müssen her, sagt man hinter vorgehaltener Hand. Aber die lassen sich einstweilen kaum blicken. Sollten aber in Politik und Wirtschaft die Populisten und Demagogen das Sagen bekommen, degeneriert auch die Kultur freiheitlich-verantwortlicher Ordnungen. Dann hilft auch keine Polizei mehr, sondern verstärkt die Unsicherheit. Die Kirche wurde wegen der beklagenswerten Delikte einiger Amtsträger kollektiv diskreditiert. Sie ist hierzulande abgetaucht und "in sich" gegangen. Dabei sollte man von ihr erwarten dürfen, daß sie den Verantwortlichen ins Gewissen redet.

Nach den Erfahrungen mit der Weltwirtschaftkrise Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatten sich nicht nur Wirtschaftsdenker wie John M. Keynes und Wilhelm Röpke Gedanken darüber gemacht, wie der Kapitalismus vor seiner eigenen Krisenanfälligkeit zu retten sei. Auf weltkirchlicher Ebene gab Papst Pius XI. 1931 mit seiner Enzyklika "Quadragesimo anno" wichtige Hinweise zur Reform eines Monopol- und Finanzkapitalismus, der dem Prinzip der Subsidiarität zu unterwerfen sei. Diesem Sozialprinzip entsprechend sollten sich die notwendige "Gesinnungsreform" und die erforderliche "Zuständereform" miteinander verbinden. Organisiert werden sollte dies durch "intermediäre Gewalten", die zwischen den einzelnen Personen und den Gemeinschaftsbelangen zu vermitteln haben: Familien, Parteien, Verbände, Kirchen et cetera. Diese Institutionen der Zivilgesellschaft sind krisenhaft erschüttert.

Subsidiarität

Vom subsidiären Leitbild ist in der Praxis leider nicht mehr viel übrig geblieben. Es geriet zwischen die Mühlsteine der Individualisierung einerseits und eines staatlichen Zentralismus andererseits. Ohne Bindung an das Subsidiaritätsprinzip stehen sich strukturferne Moralisten und moralfreie Strukturalisten verständnislos gegenüber. Diese folgen der Ideologie der Machbarkeit und zentralen Planbarkeit, während jene die persönliche Moral privatisieren und somit relativieren.

Da spielt es schon keine Rolle mehr, wie man das heute bei uns vorherrschende System nennt. Von sozialer Marktwirtschaft im ursprünglich subsidiären Sinne ist kaum mehr die Rede. Ihre Entstehungsgeschichte, ihre normativen Voraussetzungen, ihr ordnungspolitisches Programm sind sogar in den Wirtschaftswissenschaften so gut wie vergessen. Aber auch die alternativen Begriffe "Kapitalismus" und "Sozialismus" haben ausgedient. Sie scheinen nicht mehr geeignet zu sein, die politisch-ökonomische Wirklichkeit normativ oder deskriptiv zu erfassen.

In der gegenwärtigen Konfusion der Begriffe und Ordnungen erscheinen Staatskapitalismus und Liberalsozialismus inzwischen fast als austauschbare Größen. Im Kuddelmuddel täglich neuer Probleme und konkurrierender Ansprüche schwanken die Parteipolitiker populistisch mal nach links, mal nach rechts, wobei auch die links-rechts-Unterscheidung nichts Eindeutiges mehr hat. Das Schwanken ist zum Prinzip geworden. Wenn man wenigstens aus den alten Systemkrisen lernen könnte, um neue zu vermeiden, könnte man auch leichter einen neuen "Dritten Weg" ohne Schwankungen ins Auge fassen. Hier könnte die katholische Soziallehre in ihrer kontinuierlichen Entfaltung und weltweiten Bedeutung zur Orientierung dienen.