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Ruhender Pol in brisanter Zeit

KARL CARSTENS (1976-1979) Für den vornehmen Hanseaten war das Amt nur Episode. Er stieß wichtige Parlamentsreformen an

28.02.2011
2023-08-30T12:16:38.7200Z
6 Min

Er hat die schnellste und steilste Karriere aufs Bonner Parkett gelegt; und das sowohl als Beamter wie als Parteipolitiker. Noch von Konrad Adenauer entdeckt und gefördert, stieg der in Bremen geborene und in hanseatisch-preußischer Tradition erzogene Karl Carstens binnen sechs Jahren (1954 bis 1960) vom deutschen Gesandten beim Europarat in Straßburg zum Staatssekretär erst im Auswärtigen Amt, dann im Verteidigungsministerium und schließlich im Kanzleramt unter Kurt Georg Kiesinger auf. Parteipolitisch hatte es die CDU mit ihm noch eiliger. Erst 1972 in den Bundestag gewählt, kürte sie ihn schon ein Jahr später als Nachfolger des großen Wahlverlierers Rainer Barzel zum Fraktionschef und Oppositionsführer, vier Jahre später zum Parlamentspräsidenten und wiederum nur zweieinhalb Jahre später zum Bundespräsidenten. Blitzkarrieren, die heute unverdientermaßen fast vergessen sind.

Abgeordnete verweigern sich

Das kann auch daran liegen, dass Karl Carstens entgegen seinem Naturell als Oppositionsführer zum politischen Scharfmacher mutierte. So ganz im Widerspruch zum eigentlichen Lebensprinzip des Wertekonservativen im Privaten wie im Beruflichen - dem Fair Play. Viele Sozialdemokraten haben ihm das nie vergessen, manche ihn gar völlig zu Unrecht des Rechtsextremismus verdächtigt. Die erste Stunde der Rache kam für sie dann am 14. Dezember 1976, als der damals 62-Jährige zum sechsten Bundestagspräsidenten gewählt wurde. Entgegen der parlamentarischen Gepflogenheit verweigerten mehr als 100 Abgeordnete dem Kandidaten der stärksten Fraktion die Zustimmung.

Ausgleichend

Doch es blieb - wie auch drei Jahre später bei der Wahl zum Bundespräsidenten - ein parteitaktisch entfachter Sturm im Wasserglas. Denn kaum auf dem Präsidentensessel, fand Karl Carstens zu seinen eigentlichen Charakterzügen und damit zu einer parteiübergreifenden ausgleichenden Amtsführung zurück. Dabei verstand er sich nicht nur, sondern handelte auch als Anwalt aller Parlamentarier. In seinen Reden unterstrich der Professor für Staatsrecht, der er nebenbei auch noch war, wieder und wieder die zentrale Rolle des Bundestags in der deutschen Politik und als Garant einer freiheitlichen Ordnung. Das waren damals, als der Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) die Republik in ihren Grundfesten erschütterte und die politische Linke fast alles in Frage stellte, was dem Land nach dem Krieg wieder Wohlstand und Vertrauen bei seinen westlichen Verbündeten beschert hatte, keine Reden nur zum Fenster hinaus.

Reformen angestoßen

In die Parlamentsgeschichte eingegangen ist Karl Carstens trotz seiner vergleichsweise kurzen Amtszeit mit einem ganz praktischen Anliegen. Er wollte die Arbeit des Parlaments reformieren, um sie auch für die Öffentlichkeit wieder interessanter zu machen. Angesichts der entscheidenden Bedeutung des Bundestags im Staatsgefüge sah er in der bereits damals lautstark beklagten Parlamentsverdrossenheit eine Gefahr, der begegnet werden müsse. Als Bundestagspräsident nutzte er nun die Chance, das auf den Weg zu bringen, was er bereits als Fraktionschef gefordert hatte: Die Redebeiträge im Parlament zu kürzen und damit die Debatten lebendiger zu gestalten. Im Oktober 1978 stimmte der Ältestenrat versuchsweise einer ersten Reform der Geschäftsordnung zu.

Änderungen

Das waren die Kernpunkte:

- Es sollte künftig möglich sein, die Debatten als Regelaussprache oder als Aussprache mit Kurzbeiträgen zu führen.

- Im Rahmen der Regelaussprache sollte der erste Redner einer Fraktion höchstens 30 Minuten, die übrigen Redner höchstens 15 Minuten sprechen. Wenn allerdings die Regierung in die Debatte eingriff, stand der Opposition eine gleich lange Redezeit zu, ohne Anrechnung auf die den Fraktionen zustehende Redezeit.

- In der Aussprache mit Kurzbeiträgen durfte der einzelne Redner nicht länger als zehn Minuten sprechen. Der Präsident durfte die Redezeit nicht verlängern.

- Welche Art der Debatte geführt werde, sollte vom Ältestenrat festgelegt werden.

Neue Geschäftsordnung

Nach der Premiere (Kurzdebatte zu den "Verletzungen der innerdeutschen Verträge durch die DDR") jubelte ein Hinterbänkler: "Jetzt hab´ ich auch einmal die Chance, im Hohen Hause zu sprechen." Dieser erste Reformansatz wurde 1980, also erst unter Carstens´ Nachfolger Richard Stücklen, Teil der neuen Bundestags-Geschäftsordnung. Seine damaligen Vorschläge sind bis heute in der Art der Debattenführung deutlich erkennbar. Karl Carstens gab sich mit diesem Teilerfolg indes nicht zufrieden. Er wollte auch in anderen Bereichen etwas bewegen. Dabei war ihm weniger Erfolg beschieden. Und nicht nur ihm. Kein Präsident hat es bislang geschafft, die Gesetzesflut einzudämmen. Das forderte im März 1977 schon Parlamentspräsident Carstens in einem Interview mit dem Autoren: "Für den Bürger ist es nur noch schwer möglich, die Flut von Gesetzen zu erfassen. Wir sollten die Flut eindämmen. Dazu ist ein Gremium nötig, das eine Art Schleuse bildet." In ihm sollten Mitglieder der Regierung oder des Parlaments überprüfen, ob Gesetzesvorlagen unter allgemeinen Gesichtspunkten wirklich notwendig seien. Zudem sei eine vorherige Kosten-NutzenAnalyse wünschenswert. Auch Carstens wusste schon um die Problematik einer solcher Forderung, "weil jeder der Spezialisten in seinem Bereich offene Fragen sieht, die unbedingt gesetzlich geregelt werden müssen." Eine Problematik, die heute so ungelöst und aktuell ist wie vor gut 30 Jahren. Carstens begründete seinen Vorstoß damals mit der Zahl von 516 Gesetzen, die in der Legislaturperiode 1972 bis 1976 verabschiedet wurden. In der vergangenen Legislaturperiode (2005 bis 2009) waren es 616.

Bündelung von Landeswahlen

Mit einem anderen bis heute aktuell gebliebenen Dauerbrenner hat Carstens 1978 versucht, die in den siebziger Jahren wieder ziemlich hitzig geführten Parlamentsdebatten zu entschärfen und zugleich die Arbeitsbelastung der Politiker zu mindern. Seine Forderung: Die Landtagswahlen sollten gebündelt und auf zwei bis drei Termine in einer Bundestags-Legislaturperiode konzentriert werden. Der damalige zentrale Einwand gegen diese Ökonomisierung der Wahlen in Deutschland, dass dafür Landesverfassungen geändert werden müssten, hat den Staats- und Verfassungsrechtler Carstens auch als Bundestagspräsident nicht überzeugt. Wie Recht er damit damals schon hatte, zeigen all die Verfassungsänderungen in den Ländern, mit denen die Legislaturperioden von vier auf fünf Jahre verlängert worden sind. Aber zur stärkeren Bündelung der Wahltermine können sich die Länder, deren Zahl von elf vor der Wiedervereinigung auf 16 danach gestiegen ist, noch immer nicht verständigen.

Streit mit Haushaltsausschuss

Bei aller Überparteilichkeit, Diplomatie und Nachsicht - Konrad Adenauer sagte über ihn sogar einmal: "der Carstens wirkt immer so beruhigend" -, konnte dem Hanseaten von der Weser allerdings auch als Parlamentspräsident der Kragen platzen. Das passierte, nachdem die Bauaufsicht gravierende Feuerschutzmängel im Abgeordnetenhaus "Langer Eugen" festgestellt hatte, deshalb den Anbau eines separaten Treppen- und Aufzugsturms verlangte. Als die Haushälter im Bewusstsein ihrer fast unumschränkten Machtfülle an den vorgelegten Bauplänen herummäkelten und damit die dringlichen Bauarbeiten verzögerten, wurde der Parlamentspräsident und damit Hausherr ziemlich laut: Er allein trage die Verantwortung für die Sicherheit aller Abgeordneten. Er dulde keinen weiteren Aufschub. Er werde deshalb auch ohne Zustimmung des Ausschusses den Bauauftrag für den Turm erteilen. Selbst wenn das gegen die Haushaltsordnung verstoße. Die Drohung wirkte: Die Haushälter gaben das Geld eiligst frei.

Integrator

Karl Carstens war in politisch brisanter Zeit als Parlamentspräsident ein ruhender Pol, ein überzeugender Integrator nach Innen wie nach Außen. Sein Name bleibt in dieser Funktion verbunden mit einer Parlamentsreform, die wichtige Anstöße gegeben hat, um den Bundestag wieder näher an die Bürger heranzuführen. Betrachtet man sein gesamtes politisches Leben, bleibt das Amt des Parlamentspräsidenten eher eine Episode. Eine hilfreiche Zeit, um neue Erfahrungen zu sammeln. Für das nächste, für das höchste Amt im Staat. Gedrängt allerdings hat er sich in keines. Dazu war er zu vornehm, zu unabhängig, zu hanseatisch geprägt. Immer ein Herr im besten Sinne. Charakteristisch für ihn war schließlich auch dieser Satz in seiner Abschiedsrede als Präsident des Deutschen Bundestags: "Wer frei ist, trägt Verantwortung. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Und wer Ansprüche stellt, vor allem an den Staat, muss auch bereit sein, Leistungen zu erbringen, Leitfaden für staatliche Ordnung und staatsbürgerliches Handeln sein."

Nächster Teil der Serie: Richard Stücklen

Der Autor Jochim Stoltenberg (geb. 1941) war langjähriger parlamentarischer Korrespondent und stellvertretender Chefredakteur der Berliner Morgenpost.