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Weiterleben nach Tag X

NACH DER VERHEERUNG Während die Japaner versuchen, ihren Alltag in den Griff zu bekommen, verlassen Ausländer das Land

21.03.2011
2023-08-30T12:16:39.7200Z
7 Min

Es ist kurz vor drei Uhr früh, als das Notfallsignal des Handys wieder losgeht. Ein kleines Männchen rennt über das Display, darüber blinkt hektisch das Wort "Erdbeben". Wenige Sekunden vergehen, dann Zittern die Wände, das Bett ruckelt, die Fenster knirschen. Danach herrscht Stille, allmählich beruhigt sich der Herzschlag wieder. Eine kleine Atempause bis zum nächsten Nachbeben.

Knapp zwölf Stunden sind vergangen, seit das stärkste je in Japan gemessene Beben das Land aus der Bahn geworfen hat. Nie zuvor hat die Erde dermaßen gewaltig gebockt, haben die Hochhäuser Tokios so stark geschwankt. Und dann kam der Tsunami und überrollte die Küste im Nordosten des Landes. Die Gewalt des Wassers war zerstörerischer als die Kraft des Erdbebens. Die Wasserwalze planierte ganze Städte, die Menschen hatten kaum Zeit zu fliehen.

"Ich wusste sofort, dass nach einem solchen Beben ein Tsunami drohen kann, also setzte ich mein Baby ins Auto und fuhr landeinwärts. Ich hatte nie in meinem Leben solche Angst", erzählte eine junge Japanerin dem TV-Sender NHK. Mit ihrer schnellen Reaktion rettete sie ihrem Baby und sich das Leben, auch ihr Mann hatte sich in Sicherheit bringen können. Doch von ihrem Heim, in dem sie glücklich waren, ist nichts übrig geblieben. "Der Tsunami hat uns alles genommen, was wir besessen haben. Ich habe keine Ahnung wie es weitergehen soll", sagt die Frau mit leiser Stimme, um Fassung bemüht. Die Familie hat vorerst in einem Evakuierungszentrum Unterschlupf gefunden.

So wie ihr geht es unzähligen Bewohnern der Nordostküste. Sie gelten als besonders traditionell und zurückhaltend, ihre Region ist weit weniger entwickelt als andere Landesteile. Doch wie überall in Japan wusste man auch hier von der drohenden Gefahr eines starken Erdbebens. Seit Jahren bangte man in Japan, wann und wo "The Big One" zuschlagen würde. Deswegen gehörten Erdbeben-Drills in Schulen und Kindergärten zur Routine. Deswegen standen in vielen Häusern für den Notfall gepackte Taschen immer bereit. Jede Kommune, jede Provinz hatte genau durchkalkulierte Evakuierungspläne in der Schublade.

Nicht endender Albtraum

Aber auf eine Katastrophe solchen Ausmasses war niemand vorbereitet. "Das ist schlimmer als jedes Schreckensszenario, das wir in Erwägung gezogen haben", stotterte der Bürgermeister eines Küstenortes in die Kamera. Hinter ihm sieht man das, was von seinem Dorf übrig ist: Nichts.

Seit dem 11. März lebt Japan in einem nicht endenden Albtraum. Zu den permanenten Erschütterungen und dem Trauma des Tsunamis kommt die stetig wachsende Sorge wegen der drohenden Katastrophe in der Kernkraftanlage Fukushima. Es ist eine von mehr als 50 Atomanlagen im Land. Obgleich Japan als einziges Land der Welt mit Atombomben attackiert wurde, ist diese Form der Energiegewinnung weitgehend akzeptiert. Das liegt vor allem daran, dass die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt einen hohen Stromverbrauch hat, aber die Energieversorgung zu mehr als 50 Prozent durch teure Ölimporte decken muss. Die letzte Kohlezeche schloss vor einem Jahrzehnt, Erdgasvorkommen gibt es nicht.

Bereits seit den 1950er Jahren baut das Land AKW, die derzeit 29 Prozent des Strombedarfs liefern, bis 2030 sollen 50 Prozent des Energiebedarfs durch Kernkraft gedeckt werden. Zudem wollte Japan zur führenden Exportnation für Atomtechnik werden. Diese Gründe und das Vertrauen in die Fähigkeiten der eigenen Ingenieure und Techniker erklären, warum Japaner trotz des permanenten Erdbebenrisikos die sich stetig ausbreitenden Atomkraftwerke bisher billigten.

Das mag sich nun ändern, doch momentan steht den Japanern der Sinn nicht nach Demonstrationen und Lichterketten. Im Gegenteil, alles was zählt, ist der Versuch, in den nicht direkt betroffenen Landesteilen ein halbwegs normales Leben zu führen. Lob für ihr nach westlichen Standards stoisches Verhalten bekam das gebeutelte Land vergangenen Mittwoch von ganz oben. Kaiser Akihito sprach erstmals nach der Katastrophe zu seinem Volk. Der 77-jährige Tenno wählte seine Worte vorsichtig, fast zögerlich. Es war ein Versuch, seinen Untertanen Mut zu machen. Sehr dynamisch war des Kaisers erster Videoauftritt nicht. Wie er so dasaß, in einem grauen Anzug, leicht nach vorne gebeugt, wirkte Akihito selber angeschlagen. Er wünsche sich, dass alle Japaner den Kopf hoch halten. Dass sie weiterarbeiten und versuchen sollten, ihren Alltag zu leben, sagte der alte Mann würdevoll und bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung bei seinem Volk.

Turnschuh statt Bahn

Es scheint, dieser Ansprache hätte es gar nicht bedurft. Seit vergangenem Montag versuchen die Japaner genau das zu tun, was sich ihr Staatsoberhaupt wünschte: am Alltag festzuhalten. Sicher, in den Geschäften gibt es kaum Brot, Reis oder Milch. Auch der Strom fällt ab und zu aus, das Benzin ist rationiert. Doch das sind die einzigen sichtbaren Anzeichen der Krise. In Tokios Bürovierteln Akasaka und Otemachi traben die Angestellten in dunklen Anzügen brav zur Arbeit. So wie immer. Nur dass die Anfahrt wegen des stark reduzierten Zugverkehrs viel länger dauert. Einige kommen auf dem Fahrrad, was sonst wegen mangelnder Stellplätze verboten ist. Viele haben Turnschuhe mit, falls die Bahn ausfällt und sie wieder kilometerweit nach Hause laufen müssen.

In den Parks fegen Rentner freiwillig das Laub zusammen oder zupfen Unkraut. Auf den Strassen hüpfen morgens wie üblich Schüler in adretten Uniformen zu den Gebäuden, die am Freitag so entsetzlich gewackelt und geruckelt haben. Es erwartet sie ein ganz normaler Schultag, Hausaufgaben inklusive.

Moko Igarashi, die an mehreren internationalen Schulen in Tokio Taiko lehrt, braucht dieser Tage ihre Trommeln indes gar nicht auszupacken. Die Schulen, in die vor allem die Kinder der in Tokio lebenden Ausländer gehen, sind zumindest für zwei Wochen geschlossen. "Ich wünsche euch Glück und eine gute Reise", schrieb sie in den letzten Tagen häufig. Denn ihre Schüler meldeten sich reihenweise ab - wenn sie in der Panik, die die internationale Gemeinschaft in Tokio Schritt für Schritt erfasste, dazu überhaupt Zeit fanden.

Unaufhaltsame Dynamik

Bereits am Samstag, dem Tag nach dem Erdbeben und Tsunami, als die ersten ernsthaften Probleme in Fukushima bekannt wurden, setzte eine unaufhaltsame Dynamik ein. Die ersten SMS machten die Runde: "Sitzen im Zug nach Kyoto", simste eine deutsche Familie an Freunde in Tokio, "von da aus sehen wir weiter." Andere fuhren die ganze Nacht durch und stiegen völlig übermüdet in Hotels in Osaka ab. Ganz Eilige fuhren zu den Flughäfen Haneda und Narita, um das Land zu verlassen.

"Ich will nicht warten, bis ich keinen Flug mehr bekomme. Und das kann ganz schnell gehen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn hier in Tokio Panik ausbricht", sagt ein deutscher Ingenieur, der am Sonntag entschied, dass er zumindest Frau und Kinder in Sicherheit bringen wollte.

Die Reihen der Verbliebenen lichteten sich schnell. "Ich weiss gar nicht mehr, wen ich um Rat fragen kann. Von meinen Freunden sind bis auf zwei schon alle weg", beklagt sich Claudia Hernandez. "Das verunsichert mich total. Bin ich nun einfach leichtsinnig, oder sind die anderen panisch? Ich hab' keine Ahnung. Und dann die ganzen Emails und Anrufe von zu Hause. Alle scheinen zu glauben, dass die japanische Regierung abwiegelt und die Situation in Fukushima runterspielt. Ich denke das eigentlich nicht, aber dieses Bombardement von Familie und Freunden macht mich irre. Ich muss mich dafür rechtfertigen, dass ich den Kopf noch nicht verloren habe", sagt die zierliche Südamerikanerin.

Andrang am Flughafen

Bis Dienstag hielt sie durch, aber dann brach auch bei ihr der Damm. Gerade hatte das Fernsehen wieder eine Explosion in einem Reaktor gemeldet. Begriffe wie "Kernschmelze" und "Super-GAU" machten erneut die Runde. Dazu kam die Warnung, dass bis Donnerstag ein Erdbeben der Stärke 7 erwartet würde. "Das ist zuviel, dieses Auf und Ab halt ich nicht mehr aus. Alles, was die ausländischen Medien berichten, klingt grauenhaft. Und was in den japanischen Zeitungen steht, kann ich nicht lesen," sagt Hernandez.

Am Internationalen Flughafen Narita wurde der Massenandrang in der vergangenen Woche mit japanischen Mitteln bewältigt: professionell, effizient, ohne viele Worte. Zehntausende Reisewillige drängten sich viele Stunden vor dem Abflug ihrer Maschine in den Flughafenhallen und kontrollierten immer wieder auf den Anzeigetafeln, dass ihr Fluchtversuch nicht im letzten Moment scheiterte. Einige hatten im Flughafen kampiert, um nur ja ihren Flug nicht zu verpassen. Doch Aggressivität oder Gereiztheit war nicht zu spüren. "Ich bin total baff, wie gesittet es hier abgeht", urteilte Jeff Ryan. Der Student wollte nach Los Angeles fliegen, "und ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt. Aber das ist ja ganz easy hier. Mir tut es auch total leid, dass ich aus Japan abhaue. Aber ich fühle mich seit dem Erdbeben dermassen als Ausländer. Ich kann die Sprache nicht gut und kapiere einfach nicht, wie die Japaner dieses Desaster wegstecken. Das verunsichert mich eher. Da will ich doch lieber nach Hause, wo ich weiss, wie die Leute ticken."

Auch die Deutsche Botschaft entschied am Donnerstag, dass sie ihre bis dahin eher diplomatische Haltung nicht weiter durchhalten könne. Sie zog nach Osaka um, empfahl dies auch allen im Grossraum Tokio lebenden Deutschen. Hilfsteams stünden bereit, um die Ausreise von dort zu unterstützen. Die Lufthansa meldete über die Website der Botschaft, dass es noch einige Plätze für einen Flug von Osaka gäbe.

Die Japaner sehen die Fluchtbewegung der Ausländer zumindest mit Befremden. "Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder. Aber dies ist mein Land, mein Mann arbeitet in Tokio, meine Kinder gehen hier zur Schule. Da renne ich nicht einfach weg. Noch nicht", sagte eine Japanerin einem lokalen Nachrichtensender. Ausländer, die geblieben sind, dürfen sich über Lob und höhere Akzeptanz bei den einheimischen Kollegen freuen, immerhin. Eine absurde Situation.

In der zerstörten Region an der Ostküste spielen solche Dinge keine Rolle. Es geht um ein Weiterleben nach dem Tag X, um die Hoffnung auf Essen und Trinken. Und um den Kampf gegen die Kälte. Denn das Wetter ist miserabel, es regnet oder schneit, nachts sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt, und es gibt weder Strom noch Brennstoff. Die Regierung korrigiert die offizielle Zahl der Toten permanent nach oben. Alltag, wie ihn die Landsleute in Tokio und im Westen des Inselstaates inszenieren können, ist hier noch lange nicht in Sicht.