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Nach der Rede im freien Fall

Philipp Jenninger (1984 - 1988) Die Ansprache zum 50. Jahrestag der Pogromnacht endet mit einem Skandal

11.04.2011
2023-08-30T12:16:41.7200Z
6 Min

Eigentlich wandelte Philipp Jenninger nach dem 5. November 1984 auf einem sonnigen Pfad. Er war an diesem Tag mit großer Mehrheit zum Bundestagspräsidenten gewählt worden, hinter ihm lagen erfolgreiche 15 Jahre als direkt gewählter Abgeordneter, davon neun als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU Bundestagsfraktion, und er galt allgemein als absoluter Profi des Parlamentsalltags.

Über die Unparteilichkeit seiner Amtsführung ließ er niemanden im Zweifel, auch nicht seinen einstigen Förderer Franz Josef Strauß, gegen dessen verbale Entgleisung in Sachen Untersuchungsausschuss zur Parteispendenaffäre (das Gremium erinnere ihn, so Strauß, "in peinlicher Weise an Schauprozesse") er sich schon kurz nach Amtsantritt verwahrt hatte. Jenninger genoss, wie das "Hamburger Abendblatt" zwei Jahre später anerkennend vermerkte, gerade bei der Opposition aus SPD und Grünen hohes Ansehen. 1987 wurde er, wiederum mit großer Mehrheit, im Amt bestätigt.

Dialog mit Osteuropa

Alles sprach für eine untadelige, harmonische Präsidentschaft ohne besondere Höhen und Tiefen. Jenninger setzte den Neubau des Bonner Plenarsaals durch, sorgte für die Einrichtung von Jugendaustauschprogrammen und der Parlamentskommission für die Belange der Kinder. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem politischen Wandel in den Staaten des Warschauer Pakts, der mit der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarnosc" in Polen und dann mit dem Auftreten Gorbatschows in Gang gekommen war. Seine Überzeugung, dass hier der Deutsche Bundestag einen Beitrag leisten könne und müsse, zeugte von Weitsicht. Er sah von jeher im offenen Gedankenaustausch hinter den Kulissen eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit, atmosphärisch und in der Folge auch politisch Bewegung in die festgefahrenen ideologischen Klischees zu bringen. Der von ihm angestoßene, von zahlreichen gegenseitigen Besuchen begleitete Dialog mit Abgeordneten des polnischen Sejm, des Moskauer Obersten Sowjet, mit den Parlamenten Ungarns, der CSSR, Rumäniens, ja sogar der DDR-Volkskammer war das bedeutsamste politische Engagement in seiner Amtszeit - jedenfalls eines, das ihm die größte Wertschätzung eintrug. Diese Persönlichkeiten gingen unter den Verhältnissen einer Diktatur ihrer Parlamentsarbeit nach oder waren selbst Teil der kommunistischen Nomenklatura.

Die "fehlgeschlagene" Rede

All das fand am 10. November 1988 mit der Ansprache anlässlich des 50. Jahrestages der Nazi-Pogrome gegen die deutschen Juden ein jähes Ende. Philipp Jenninger hielt im Bundestag eine Rede, die einen Skandal auslöste, der in der deutschen Parlamentsgeschichte seinesgleichen sucht. Zwei Tage später trat der CDU-Politiker von seinem Amt als Bundestagspräsident zurück. Liest man diese Rede heute, erscheint es einem unbegreiflich, wie es dazu kommen konnte.

An der Integrität Philipp Jenningers konnte kein Zweifel bestehen. Jeder wusste: Antisemitismus und Vergangenheitsverdrängung lagen ihm fern. Jenninger pflegte engagiert die Beziehungen zu Israel, das er während seiner Amtszeit dreimal besuchte. So hatte er als einziger Parlamentspräsident aus Europa an der Feier in der Knesset - dem israelische Parlament - zum 40. Jahrestag der Gründung Israels teilgenommen.

Willy Brandt kommentierte Jenningers Rede mit den Worten, sie sei "fehlgeschlagen, nicht weil Jenninger ein schlechter Kerl ist, sondern weil er sich übernommen hat". Das war, gemessen am Sturm der Entrüstung, der über Jenninger hereinbrach, noch zurückhaltend. Man warf ihm vor, er habe sich nicht genügend von den Nazi-Verbrechen distanziert, ja er habe in der Sprache der Nazis gesprochen. Es fehlte nicht an Schlagzeilen wie "Jenninger vom Faschismus fasziniert" und das Magazin Der Spiegel höhnte, er marschiere "mit Knobelbechern durch die Geschichte". SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel rügte, es habe Stellen gegeben, "da hätte man in den Boden versinken wollen". Dies bezog sich vor allem auf eine Passage, in der Jenninger die Jahre von 1933 bis 1938 als ein "Faszinosum" bezeichnete "insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt" - obgleich Vogel selbst später in einem Interview bekannte, auch auf ihn sei in seiner Zeit bei der Hitlerjugend von Hitler und seinen Reden "eine gewisse Faszination" ausgegangen.

War alles nur ein Missverständnis? Eher nicht. Zu einer Rede gehören bekanntlich zwei: Einer, der sie hält, und einer, der zuhört. Und auch für jedes Missverständnis braucht es wenigstens zwei. Im Falle Jenningers, das kann man heute ohne Übertreibung sagen, scheute der Wille zum Missverstehen keine Mühe. Jenninger hatte noch keine inhaltliche Aussage getroffen, er war kaum über die Begrüßung der Ehrengäste hinausgekommen, als er nach knapp zwei Minuten von der Grünen-Abgeordneten Jutta Oesterle-Schwerin mit dem ersten Zwischenruf "Das ist doch alles gelogen!" unterbrochen wurde - just in dem Moment, als er dabei war, den Sinn der Gedenkveranstaltung zu umreißen: Dass nämlich "wir, in deren Mitte die Verbrechen geschahen, erinnern und Rechenschaft ablegen müssen, weil wir Deutschen uns klar werden wollen über das Verständnis unserer Geschichte und über Lehren für die Zukunft".

Geplanter Protest

Genau dieser Gedanke, nämlich Antwort auf das Warum zu geben, ging auf Werner Nachmann, den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, zurück, der ein Jahr zuvor mit dem Vorschlag an Jenninger herangetreten war, die Gedenkveranstaltung nicht mehr wie bisher von den Opfern, sondern von der Seite der Täter im Bundestag stattfinden zu lassen. Freilich war es im Vorfeld dann zum Streit darüber gekommen, ob Jenninger überhaupt sprechen dürfe, und wie Oesterle-Schwerin hinterher einräumte, war ihr Protest auch von vornherein geplant gewesen. Jenninger sprach später von der "Eiseskälte", die er von den Parlamentariern zum Rednerpult hochkommen spürte. Seine unglückliche Vortragsweise, in der Zitate nicht immer deutlich als solche zu erkennen waren, tat ein Übriges, die Zwischenrufe häuften sich, Abgeordnete der SPD und der Grünen verließen den Saal, der Eklat nahm seinen Lauf.

Ironischerweise hat der verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, der Jenningers Rede "über weite Strecken hervorragend", aber "rhetorisch miserabel gehalten" empfand, einmal in einer Veranstaltung Kernpassagen daraus vorgetragen, um die Reaktion des Publikums zu testen. Niemand nahm daran Anstoß. Tatsächlich findet sich in der Rede kein Satz, den man als Rechtfertigung des Nationalsozialismus hätte deuten können. Im Gegenteil. Jenninger vermied jegliche Betroffenheitsrhetorik, er wartete stattdessen mit unangenehmen Einsichten auf. Mehr noch als Richard von Weizsäcker, der in seiner Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes sagte, "die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger", betonte Jenninger die Verantwortung der Deutschen, da "alle sehen konnten, was heute vor 50 Jahren in Deutschland geschah, und dass die Deportationen in aller Öffentlichkeit vonstatten gingen". Und weiter: "Deutschland hatte Abschied genommen von allen humanitären Ideen, die die geistige Identität Europas ausmachten, der Abstieg in die Barbarei war gewollt und vorsätzlich."

Die kommunistische Präsidentin des italienischen Parlamentes, Jilde Notti, urteilte damals, sie habe noch nie von einem deutschen Politiker eine so mutige Analyse des Nazismus gehört. Über den eher peinlichen Hintergrund der politisch-korrekten Reflexe, die ihre fatale Eigendynamik entfaltet hatten, gab sie sich keinen Illusionen hin: "Die deutschen Reaktionen zeigen, dass mehr dahinter stecken muss als nur ein Fehler in der Diktion der Rede. Der wahre Grund für die Zurückweisung von Jenningers Rede: Er hat den Deutschen einen Spiegel vorgehalten, in dem sie sich nicht betrachten wollen."

Botschafter in Wien und beim Papst

Für Philipp Jenninger bedeutete die Skandalisierung jener Rede das Ende der parlamentarischen Karriere. Enttäuscht über die Kollegen in der CDU kandidierte er 1990 nicht mehr für die nächste Bundestagswahl und wechselte in die Diplomatie. Er war Botschafter in Wien und später beim Heiligen

Stuhl. Die Zeit im Vatikan betrachtet er im Nachhinein als Krönung seiner politischen Laufbahn. Er lernte Papst Johannes Paul II. aus nächster Nähe kennen und nannte ihn einen "begnadeten Politiker". Selbst der ehemalige Präsident, Michail Gorbatschow, habe diesen Papst ihm, Jenninger, gegenüber als wichtigsten Menschen bei der Wende in der Sowjetunion bezeichnet, berichtete der ehemalige Bundestagspräsident.

Philipp Jenninger lebt heute zurückgezogen in Stuttgart und kann mit sich im Reinen sein. Er hatte kein Wort gesagt, dessen er sich schämen müsste.

Lesen Sie im nächsten Teil der Serie: Rita Süssmuth

Der Autor Rainer Poeschl arbeitet als freier Journalist in Hamburg und

Berlin.