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Aufbruch in Tripolis

NORDAFRIKA Libyens Machthaber Gaddafi ist tot und das Land atmet auf. Doch die größte Herausforderung steht noch bevor: Der Aufbau eines neuen Staates.

24.10.2011
2023-08-30T12:16:50.7200Z
4 Min

In der arabischen Welt gibt es in diesen Tagen so viele bedeutende Ereignisse wie früher machmal in einem ganzen Jahrzehnt. In der libyschen Stadt Sirte nahmen die Truppen des Übergangsrates den ehemaligen Machthaber Muammar al-Gaddafi gefangen, der die Geschicke ihres Landes fast 42 Jahre lang bestimmt hatte. Kurz darauf wurde Oberst Gaddafi erschossen, wobei noch nicht ganz klar ist, wer die tödlichen Schüsse abgegeben hat. Was die von den Revolutionstruppen inoffiziell verbreiteten Fotos und Videos aus den letzten Stunden des Despoten jedoch deutlich zeigen, ist, dass Gaddafi von den Kämpfern herumgeschubst und verhöhnt wurde. Sein Tod erinnert an das grausige Ende des rumänischen Machthabers Nicolae Ceausescu 1989.

Islamisten

Wenn sich die Aufregung um die Umstände von Gaddafis Tod gelegt hat, wird die Frage im Vordergrund stehen, wie man die Interessen der Islamisten und die Vorstellungen der liberalen Kräfte unter einen Hut bringen kann. Dies ist ein Problem, das auch in Ägypten virulent ist und unter den Oppositionellen im Jemen und in Syrien ebenfalls sehr kontrovers diskutiert wird. Die Libyer, die nun binnen eines Monats eine neue Übergangsregierung bilden wollen, haben letztlich die größte Aufgabe zu bewältigen, weil ihnen der Kontrollfreak Gaddafi einen Staat hinterlassen hat, in dem bislang nur sein Wort galt. Deshalb ist das nordafrikanische Land trotz seines Öl-Reichtums praktisch ohne Institutionen. Und die Infrastruktur ist in vielen Gebieten außerhalb der Hauptstadt so schlecht wie im Jemen oder im Nord-Sudan.

Libyen hat bisher keine Verfassung. Parteien waren generell verboten. Abgesehen vom Außenministerium, dem staatlichen Investmentfonds und der staatlichen Öl-Gesellschaft gab es kaum vernünftig funktionierende Behörden.

Einige Beobachter glauben jedoch, dass es den Libyern gerade aufgrund dieses Vakuums sogar leichter als anderen Arabern fallen wird, einen Staat mit modernen Strukturen zu schaffen. Denn in Ägypten und in gewissem Maße auch in Tunesien müssen die Reformer dauerhaft mit dem Widerstand eines Apparats rechnen, in dem sich auch auf den unteren Ebenen unter dem alten Regime korrupte Beamte häuslich eingerichtet hatten.

Die Hauptstadt Tripolis hatten die Rebellen zwar schon im August eingenommen. Doch es war immer klar, dass es keinen echten Neuanfang geben könnte, solange die letzten Gaddafi-Getreuen noch in den Städten Sirte und Bani Walid Widerstand leisten. Das hatte auch der Übergangsrat so gesehen, der deshalb alle wichtigen Entscheidungen auf die Zeit nach der "Befreiung" des ganzen Landes verschoben hatte.

Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Es gibt viel zu tun und etliche der Geschäftsleute, Banker, Journalisten, Richter und Offiziere, die in den vergangenen Monaten wichtige Posten in den ad hoc zusammengewürfelten Gremien des Übergangsrates bekleidet hatten, werden wohl in zwei Monaten kein Spitzenamt mehr bekleiden.

Der bei westlichen Diplomaten gut gelittene Vorsitzende der ersten Interimsregierung, Mahmud Dschibril, hat schon öffentlich erklärt, er stehe als neuer Ministerpräsident nicht zur Verfügung. Er hat dies mit einer Spur Bitterkeit gesagt. Denn der Akademiker, der in den letzten Jahren der Gaddafi-Herrschaft versucht hatte, Libyens Wirtschaft zu modernisieren, war zuletzt von einigen Rebellenkommandeuren und islamistischen Gruppen angefeindet worden. Sie hatten ihm vorgeworfen, er habe sich - während sie an der Front ihr Leben riskierten - im Ausland ein angenehmes Leben gemacht. Dabei vergaßen sie meist zu erwähnen, dass die auch militärisch wichtige internationale Unterstützung für den Übergangsrat und die Rebellentruppe auch Dschibrils diplomatischem Geschick zu verdanken war.

Auch in Tunesien, wo der "Arabische Frühling" seinen Anfang genommen hatte, wird jetzt Geschichte geschrieben. Am gestrigen Sonntag gingen die Tunesier erstmals seit dem Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali zur Wahl. Sie wählten eine verfassungsgebende Versammlung, deren Aufgabe nicht weniger sein wird, als den Staat komplett neu zu erfinden. Viel deutet darauf hin, dass am Ende dieses Prozesses eine Demokratie mit einem starken Parlament stehen wird, das dem Islam einen höheren Stellenwert einräumen wird, als dies unter Ben Ali und seinem Vorgänger, dem Modernisierer Habib Bourgiba, der Fall gewesen war. Der Graben, der zwischen islamisch-konservativen und liberalen Tunesiern, deren Lebensstil sich eher an Frankreich orientiert, verläuft, ist tief. Doch vom Prozedere her ist es so angelegt, dass die neue Verfassung wohl nicht ohne die Zustimmung beider Blöcke verabschiedet werden kann.

Friedensnobelpreis

Für den Jemen, wo Demokratie-Aktivisten versuchen, den immer noch von etlichen Stammesführern und Offizieren gestützten Langzeitpräsidenten Ali Abdullah Salih zu entmachten, hielt der Oktober ebenfalls ein großes Ereignis bereit. Mit der Salih-Gegnerin und Menschenrechtsaktivistin Tawakkul Karman wurde zum ersten Mal einem Bürger dieses unterentwickelten Landes der Friedensnobelpreis zugesprochen. Die energische Tawakkul Karman ist kompromisslos, wenn es um bürgerliche Freiheiten geht. Sie gehört, was für viele westliche Beobachter erst einmal ungewöhnlich klingt, einer islamistischen Partei an.