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Krankes System

PLÄDOYER Das Transplantationswesen muss verbessert werden. Dafür braucht es mehr staatliche Kontrolle

18.02.2013
2023-08-30T12:23:53.7200Z
6 Min

Göttingen, Regensburg, München, Leipzig. Es sind Namen renommierter Universitätsstädte, die jetzt für einen der größten Medizinskandale stehen. Im Sommer 2012 war öffentlich geworden, dass ein Transplantationschirurg aus Göttingen über Jahre Laborwerte seiner leberkranken Patienten offenbar gezielt gefälscht, Urin in Blutröhrchen gemischt sowie Dialysen vorgetäuscht hatte, die in Wirklichkeit gar nicht stattfanden.

Der Aufschrei war groß: Ein krimineller Einzeltäter sei dies, unwürdig seines ansonsten ehrbaren Berufsstandes. Dieses Märchen wurde über Monate erzählt. Von Klinikdirektoren und Ärztefunktionären, die um ihre Zentren und ihr Prestige bangten. Von Aufsichtsbehörden, die nicht zugeben mochten, vor den Machenschaften der Götter in Weiß weggesehen zu haben. Und von Politikern, die einen weiteren Rückgang der Organspenden fürchteten.

Inzwischen ist die Theorie vom Einzeltäter widerlegt. Mehr als 100 Fälle höchstwahrscheinlich absichtlicher Datenfälschungen sind aktenkundig. Und dabei haben die Kontrolltrupps der Bundesärztekammer, die seit dem Frühherbst 2012 unangemeldet durch die Republik touren, erst ein Viertel aller 47 Transplantationszentren auf Betrügereien untersucht, und dies auch nur bei der Vergabe von Lebern.

Es darf befürchtet werden, dass nahezu überall getrickst wurde - fraglich ist bloß, in welchem Ausmaß und aus welchem Motiv: Aus Verzweiflung, die eigenen Patienten sterben zu sehen? Aus persönlichem Ehrgeiz? Ärztlicher Hybris? Geschuldet dem ökonomischen Druck, der auf den Kliniken lastet? Manches davon erklärt, nichts rechtfertigt die Manipulationen.

Und jetzt?

Das Transplantationswesen muss, will es Vertrauen zurückgewinnen, neu organisiert werden. Aber wollen Politiker und Standesvertreter einen Neuanfang? Die Krise ist ja keine akute. Wider anders lautende Beschwörungen hat sie sich über Jahre, einer chronischen Erkrankung gleich, entwickeln können: Verstöße gegen die Richtlinien waren der Bundesärztekammer seit einem Jahrzehnt bekannt - und wurden meist unsanktioniert zu den Akten gelegt. Erst 2012, geschuldet dem öffentlichen Druck, entschied die Kammer, die Fälle anonymisiert zu veröffentlichen, auch jene wenigen, in denen sie zuvor tatsächlich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet hatte - ebenfalls ohne Konsequenzen. Die Krise hat Mitwisser, Profiteure, Ursachen. Sie ist strukturell.

Das deutsche Gesundheitssystem, und das gilt auch für die Transplantationsmedizin, belohnt nicht den klugen Einsatz von Ressourcen. Es belohnt Menge und Masse. Die Wertschätzung eines Chirurgen etwa bemisst sich nicht daran, ob seine Patienten nach zehn Jahren noch leben oder wie vielen von ihnen er eine Transplantation erspart hat, die das Überleben ohnehin nur um wenige Tage verlängern konnte. Denn dies will man in Deutschland lieber gar nicht wissen: Ein wissenschaftliches Transplantationsregister ist erst jetzt, 16 Jahre nach Einführung des Transplantationsgesetzes, in Planung. Die Wertschätzung des Arztes bemisst sich am ökonomischen Benefit und am Prestige, das er seiner Klinik bringt.

Königsdisziplin

Wenn sich dann auch noch bald jedes Universitätsklinikum schmücken will mit der "Königsdisziplin" Transplantationschirurgie, muss dies zwangsläufig dazu führen: zu einer schädlichen Konkurrenz viel zu vieler Zentren um viel zu wenige Organe. Das Argument der vermeintlich notwendigen wohnortnahen Versorgung wirkt dabei vorgeschoben. Nicht die Organverpflanzung muss wohnortnah erfolgen, sondern die Nachsorge. Seit Jahren wissen Experten: Die Hälfte der Transplantationszentren würde es auch tun, medizinisch wie ökonomisch wäre dies sinnvoll. Doch die Länder, zuständig für die Krankenhausplanung, sperren sich dagegen, Chefärzte sowieso.

Und so werden weiterhin einige Akteure - um zu überleben - Schlupflöcher im System suchen und nutzen. Man muss dazu gar nicht unbedingt kriminell Labordaten manipulieren. Entsprechend begründet, ist es ganz legal, auch qualitativ minderwertige Organe zu verpflanzen. Oder Patienten zu akzeptieren, die für eine Transplantation eigentlich viel zu schwach sind. Entsprechend schlechter schneiden deutsche Transplantationsergebnisse in Sachen Qualität im internationalen Vergleich ab. Möglich ist das alles, weil es, rechtsstaatlich betrachtet, im Transplantationssystem bisher kaum Kontrollen und noch weniger Rechtsschutz gibt. Sieben Institutionen, einige von ihnen privatrechtlich und damit bar jeder strengen staatlichen Aufsicht, sowie eine Handvoll verschiedener Rechtsquellen regeln die Organspende hierzulande. Sanktionen fallen bislang eher milde aus: Während etwa in den USA Transplantationszentren bis zur Widerlegung der Vorwürfe geschlossen würden, begnügt man sich in Deutschland damit, aktuell beispielsweise in München, die Neuaufnahme von Leberpatienten zu stoppen. Alles andere läuft weiter wie bisher: In München wurden die verantwortlichen Chefärzte zwar offiziell von der Leitung des Transplantationszentrums entbunden. Doch abgesehen von diesem Titelverlust machen sie faktisch ihre Arbeit weiter. In Regensburg war dem Ordinarius, der einen der mutmaßlichen Manipulateure über Jahre vermutlich geschützt hat, arbeitsrechtlich nichts vorzuwerfen. Die meisten Verstöße gegen das Transplantationsgesetz sind ohnehin strafrechtlich gar nicht zu ahnden, weil nur der Organhandel unter Strafe steht.

Die wenigen, die Kritik wagen, werden als Nestbeschmutzer beschimpft oder haben glänzende Aussichten auf eine Karriere in der Sackgasse - die Szene der Transplantationsmediziner ist überschaubar, gegenseitige Abhängigkeit immens. Zur Bekämpfung der Misere schlägt der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, vor: Vermehrte unangemeldete Kontrollen, die Androhung standesrechtlicher Sanktionen, wie (Teil-)-Entzug der ärztlichen Berufserlaubnis für notorische Betrüger. Sowie geänderte Richtlinien: Künftig muss über die Aufnahme von Patienten auf die Warteliste, über die Weitergabe ihrer Daten sowie über die Akzeptanz von Spenderorganen im ärztlichen Team nach dem Mehr-Augen-Prinzip entschieden werden. Die schwarz-gelbe Koalition will Bonusverträge für Chefärzte künftig verbieten, und Bundesgesundminister Daniel Bahr (FDP) lässt prüfen, ob und wo möglicherweise die Schließung von Rechtslücken nötig ist. All das sind kleinere Schritte, geeignet, die Symptome eines kranken Systems zu lindern. Der langfristigen Behandlung der Ursachen dienen sie kaum. Eine grundlegende Reform darf nicht länger die beiden Schlüsselfragen der Krise ausblenden: den Organmangel sowie die Organ-Vergabepraxis.

Nicht schicksalhaft

Länder vergleichbaren medizinischen Niveaus wie Spanien zeigen: Der Organmangel ist nicht schicksalhaft, es gibt Mittel und Wege, um ihm zu begegnen. Eine straffe, staatlich kontrollierte Durchführung der Organspende in wenigen hoch spezialisierten Kliniken. Hauptamtliche Transplantationsbeauftragte, bevollmächtigt, bereits in der Notaufnahme nach Patienten mit Hirnschädigungen - potenziellen Spendern also - Ausschau zu halten, und später auf den Intensivstationen vor einem etwaigen Abschalten der Maschinen zwingend eine Hirntoddiagnostik durchführen zu lassen. Die wiederum dem Krankenhaus, wie auch die Organentnahme, finanziell angemessen vergütet wird.

Zudem ist Organspende in Spanien nicht nur nach dem Hirntod, sondern auch nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand erlaubt. Wo bei uns oft noch reanimiert wird, wird auf der Iberischen Halbinsel bereits entnommen. Ohnehin ist dort aufgrund der geltenden Widerspruchslösung jeder, der zu Lebzeiten nicht aktiv widersprochen hat und dessen Angehörige einwilligen, Organspender (siehe Seite 6).

Viele deutsche Politiker scheuen solche Positionen aus Angst vor den Wählern. Doch anstatt die Debatte zu wagen und möglicherweise zu dem Schluss zu kommen, dass aus verschiedenen Gründen eine Steigerung der Organspende bei uns womöglich gar nicht gewünscht ist, wird mit Aufklärungskampagnen suggeriert, allein durch mehr Spendebereitschaft ließen sich die Zahlen steigern. Die Notwendigkeit einer offenen Debatte zeigt sich erst recht beim Thema Organvergabe. Angesichts der Ressourcenknappheit ist diese nichts anderes als die brutale Entscheidung darüber: Wer soll leben, wer sterben?

Lebenschancen

Das Parlament hat sich in seiner Mehrheit für den Weg entschieden, die Verteilung von Lebenschancen - eine hoheitliche Aufgabe - zu einer medizinischen Frage umzuetikettieren und der Bundesärztekammer zu überantworten. Einer Organisation, die nicht einmal Vereinsstatus besitzt, und deren hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Vergabepraxis, exekutiert von "Eurotransplant", einer privatrechtlichen Stiftung mit Sitz in den Niederlanden, vor Gericht kaum anfechtbar ist: Zwischen den Vergabekriterien Dringlichkeit und Erfolgsaussicht etwa besteht ein unlösbarer Zielkonflikt. Doch nicht nur deswegen ist die Bundesärztekammer überfordert: Die Mitglieder ihrer Ständigen Kommission Organtransplantation sind häufig in Personalunion Entwickler, Umsetzer und Kontrolleure der Richtlinien.

Wer hieran etwas ändern will, der muss eine gesellschaftliche Debatte anschieben zu der Frage, wie viel uns die Solidarität mit Kranken wert ist.

Die Autorin ist Redakteurin

der Tageszeitung "taz".