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Eine Dekade später

ARBEITSMARKT An der "Agenda 2010" von Kanzler Schröder scheiden sich nach wie vor die Geister

18.03.2013
2023-08-30T12:23:55.7200Z
4 Min

An der "Agenda 2010" scheiden sich bis heute die Geister. Für die einen ist sie der Motor für das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum der vergangenen Jahre, für die anderen ein Synonym für Sozialabbau und die soziale Spaltung der Gesellschaft. Unumstritten ist nur so viel: Bundeskanzler Gerhard Schröder kündigte mit seiner Regierungserklärung vor zehn Jahren, am 14. März 2003, ein umfassendes wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitisches Reformwerk an.

Exakt am zehnten Jahrestag der Agenda-Rede von Bundeskanzler Schröder hat der Bundestag vergangene Woche über die "Agenda 2010" debattiert. Dem Plenum lag dazu ein Antrag der Fraktion Die Linke vor (17/12095), der zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen wurde. Für die Linken ist die Agenda nach wie vor ein rotes Tuch. Aus ihrer Sicht handelt es sich um ein "Programm des offen angekündigten Sozialabbaus".

Chronische Probleme

Die Agenda war als Beitrag zur Lösung für chronische Probleme der deutschen Gesellschaft gedacht, insbesondere das geringe Wirtschaftswachstum, den demographischen Wandel und die stetig wachsende öffentliche Verschuldung. Ein Bündel von wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen sollte dazu dienen, die Arbeitskosten zu senken, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken. Im Mittelpunkt der Agenda standen die sogenannten Hartz-Reformen, die Verkürzung der Bezugsdauer für Arbeitslosengeld und die Lockerung des Kündigungsschutzes.

Negative Bilanz

In der Debatte unterstrich die Abgeordnete der Linken, Katja Kipping, noch einmal die aus ihrer Sicht eindeutig negative Bilanz der Agenda 2010. In den vergangenen Jahren seien die Renten gesunken, und die Reallöhne hätten sich allein im Zeitraum zwischen 2005 und 2010 um fünf Prozent vermindert. Noch schlimmer sieht es nach Ansicht Kippings im Bereich der Arbeitslosenversicherung aus: Nur noch jeder vierte Arbeitslose erhalte Arbeitslosengeld I, und Hartz IV könne man nur als "Schikane per Gesetz" bezeichnen. "Das ist ein Angriff auf die Rechte von Erwerbslosen, um Reichen und Managern zu gefallen." Für Kipping gilt daher heute das gleiche wie vor zehn Jahren: "Es gibt keinen Reformstau, es gibt einen Gerechtigkeitsstau." Nötig sei jetzt eine "Agenda Sozial", die Hartz IV abschaffe und Mindestlohn und Mindestrente einführe.

Der CDU-Abgeordnete Carsten Linnemann hielt den Linken vor, sie wollten "eine Neiddebatte". Die Bürger erwarteten aber, "dass wir mit ihren Steuergeldern vernünftig umgehen." Im Übrigen warnte Linnemann davor, die Bedeutung der Agenda 2010 zu überschätzen: "Die Stoßrichtung der Agenda war in der Sache richtig. Den Menschen geht es heute besser als vor zehn Jahren." Auch hätten die rot-grüne Regierung und die Union damals das gleiche Ziel verfolgt: "sicherer Wohlstand und sicherer Sozialstaat", versicherte Linnemann. Die derzeit gute wirtschaftliche Lage Deutschlands sei aber nicht nur auf die Agenda zurückzuführen. Maßgeblich dafür sei auch die von der amtierenden Regierung verfolgte Politik, etwa das Festhalten an der dualen Ausbildung und das Bekenntnis zur industriellen Basis Deutschlands, betonte Linnemann. Der Erfolg lasse sich in Zahlen ausdrücken: "Die Langzeitarbeitslosigkeit ist unter der Regierung von Angela Merkel um 40 Prozent zurückgegangen", betonte Linnemann.

Der SPD-Abgeordnete Hubertus Heil plädierte für eine ausgewogene Beurteilung der Agenda 2010. Sie dürfe nicht durch eine rosarote Brille betrachtet werden, es sei aber auch verkehrt, ein Verelendungsszenario zu entwerfen. In den 16 Regierungsjahren von Bundeskanzler Kohl habe sich ein großer Reformstau aufgebaut. Deshalb wie auch angesichts von rund fünf Millionen Arbeitslosen habe man damals handeln müssen, betonte Heil. Er erinnerte daran, dass zu dem Agendaprogramm auch "ein 4 Milliarden Euro schweres Ganztagsschulprogramm" sowie die Umorganisation der Bundesanstaltat für Arbeit gehört hätten.

Kritischer Rückblick

"Allerdings hat es auch Fehlentscheidungen gegeben, die wir korrigieren müssen", räumte Heil ein. Die Union habe damals im Bundesrat Regelungen durchgesetzt, die zu Fehlentwicklungen am Arbeitsmarkt geführt hätten. "Aus heutiger Sicht wäre es sinnvoll gewesen, schon 2003 einen Mindestlohn einzuführen", meinte Heil. Insgesamt seien die Reformen dennoch als Erfolg zu werten. "Ohne die Agenda 2010 wären uns in der Krise der Jahre 2008/2009 die sozialen Sicherungssysteme um die Ohren geflogen", ist sich Heil sicher.

Der FDP-Abgeordnete Johannes Vogel zog in Zweifel, dass SPD und Grüne sich heute wirklich noch zu den Agenda-Reformen bekennen würden. "Minijobs halten Sie heute für Teufelszeug", warf Vogel der SPD vor. Die Sozialdemokraten sprächen sich mittlerweile auch gegen die Rente mit 67 sowie gegen Zeitarbeit aus und wendeten sich von dem Prinzip des Förderns und Forderns ab. "Wenn man das alles umsetzen würde, wäre es um den deutschen Arbeitsmarkt schlecht bestellt", hielt Vogel der SPD vor und setzte hinzu: "Was sie tun, ist eine Generalabkehr von ihrer eigenen Reform." In Wahrheit sei es die Koalition, die heute eine vernünftige Reformpolitik glaubwürdig fortsetze. Für den Grünen-Abgeordneten Markus Kurth schwankt die Debatte über die Agenda 2010 "zwischen Überhöhung und Dämonisierung". Zu einer nüchternen Beurteilung müsse man sich die Ausgangslage vor Augen halten: Im Wirtschaftsabschwung seien die Schwächen des sozialen Sicherungssystems deutlich zu Tage getreten, etwa das Nebeneinander von Sozial- und Arbeitslosenhilfe oder die hohen Arzneimittelkosten. Angesichts dieser Probleme habe man viel erreicht, meinte Kurth. Es seien aber auch Fehler gemacht worden. Für die Langzeitbezieher von Arbeitslosengeld II müsse mehr getan werden. "Und die Praxisgebühr haben wir Seehofer zu verdanken", sagte Kurth.