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Aschot Manutscharjan
Kurz notiert

Wer sich für die politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, wird bei Jan-Werner Müller neue interessante Ansätze und Erklärungsmodelle finden. In seinem gut lesbaren Buch beschreibt der in Princeton lehrende Professor, wie das Zeitalter der Ideologien und des Hasses die Jahrzehnte seit dem Ersten Weltkrieg bis zum Zerfall des kommunistischen Systems in Mittel- und Osteuropa prägte. Dabei erwiesen sich nicht nur die eher abstrakten politischen Theorien als wirkmächtig, sondern vor allem die Konzepte, die in praktische Politik umgesetzt wurden. Deshalb räumt der Autor "Bürokraten mit Visionen", aber auch einflussreichen "philosophierenden Staatsmännern" und "berufsmäßigen Ideenvermittlern" viel Platz in seinem Buch ein. Gerade die zuletzt genannten seien im Zeitalter der Massendemokratie gefragt, weil sie die Herrschafts- und Institutionsformen der politischen Systeme rechtfertigten.

Laut Müller begann Europas "demokratisches Zeitalter" unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Mit Blick auf den real existierenden Staatssozialismus oder den Faschismus mag diese These überraschen. Der Autor verweist jedoch auf einen Wert wie Gleichheit, den selbst die Machthaber totalitärer Staaten ihren Bürgern zu verwirklichen versprachen. Auch wenn sie nur als Kollektivsubjekt - sei es als klassenlose Gesellschaft oder als reinrassige Volksgemeinschaft - erreicht werden sollte.

Die Nachkriegsdemokratien in Westeuropa hätten sich nicht nur in klarer Abgrenzung zum Staatsterror und zum aggressiven Nationalismus, sondern auch "zur totalitären Vorstellung der uneingeschränkten historischen Handlungsmöglichkeiten von Kollektivsubjekten" definiert, betont Müller. Dies habe zu stabilen Demokratien geführt, die sich freiwillig dem Urteil und den Richtlinien "nicht gewählter" Institutionen, wie Verfassungsgerichten oder den Europäischen Gemeinschaften, unterstellten. Gerade diese Institutionen hätten sich als Gegengewicht zu populistischen Strömungen bewährt.

Jan-Werner Müller:

Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert

Suhrkamp Verlag, Berlin 2013; 509 S., 39,95 €

Aus Politik und Zeitgeschichte

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