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Aschot Manutscharjan
Kurz notiert

Wir leben im Zeitalter der europäischen Misstrauensgesellschaften, in einer verfallenen "Scheindemokratie". Verantwortlich gemacht für diese Entwicklung wird eine abgehobene, inkompetente politische Klasse, die eine passive, schweigende Mehrheit manipuliere. Die Aktivisten der Protestbewegungen in Deutschland zeigen sich zutiefst davon überzeugt, dass sie über weit mehr Verstand verfügen als gewählte Parlamentarier und Regierende, die zu Karrieristen und Postenjägern mutiert seien. Auch Lobbyisten und die Medien werden als Grundübel der Demokratie genannt, die ihren Beitrag zur Deformation einer ursprünglich guten Idee leisteten. Diese und ähnliche Aussagen geben einen ersten Einblick in das Stimmungsbild unter den Vertretern der Protestkultur in Deutschland. Nachzulesen sind sie in der empfehlenswerten Studie über "Die neue Macht der Bürger" des Instituts für Demokratieforschung an der Universität Göttingen.

Die Autoren analysierten Motivation und Verlauf der Bürgerproteste: beispielsweise gegen Stromtrassen, fehlende Studienplätze oder Globalisierung und Finanzmärkte. Unter den Aktivisten fanden sie Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler, Schüler, Studierende, Pastoren, Lehrer und "ganz besonders Vorruheständler, Rentner und Pensionäre". Sie alle hätten "entweder reichlich freie Zeit oder doch das Privileg, über ihren Zeithaushalt vergleichsweise individuell und autonom disponieren zu können", lautet der Befund. Und sie verfügten über hohe Bildungsabschlüsse. Beeinflusst worden seien sie durch die Studentenrevolten, die Bewegungen gegen Atomenergie und Mittelstreckenraketen oder die zahlreichen Bürgerinitiativen in den 1970er Jahren.

Dem zivilgesellschaftlichen Ungehorsam spricht der Politologe Franz Walter ein hohes Maß an Legitmität zu: "Ohne den misstrauischen Blick aufgeklärter und aufmerksamer Bürger würden sich politische und ökonomische Macht verselbstständigen und korrumpieren." Dies gelte auch für eine starke parlamentarische Demokratie wie in Deutschland.

Franz Walter (Hg.):

Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protest- bewegungen?

Rowohlt Verlag, Hamburg 2013; 346 S., 16,95 €

Aus Politik und Zeitgeschichte

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