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Debakel eines Blackouts

NSU-ABSCHLUSSBERICHT Behörden-Kleinkrieg, versandete Infos und unbeachtete Spuren ließen die mutmaßlichen Täter unbehelligt

09.09.2013
2023-08-30T12:24:04.7200Z
5 Min

In Nürnberg wurde im September 2000 ein Blumenhändler ermordet - das erste Opfer einer unheimlichen Mordserie: In den folgenden Jahren wurden unter anderem ein Gemüsehändler in Hamburg, der Inhaber eines Schlüsseldienstes in München, der Betreiber eines Internetcafes in Kassel und ein Döner-Aushilfsverkäufer in Rostock erschossen - das letzte Opfer war 2007 eine Polizistin in Heilbronn. So beispiellos die Hinrichtung von neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin war, so beispiellos war das Versagen von Polizei und Geheimdiensten bei der Aufklärung dieser Verbrechen: Die immerhin 36 beteiligten Sicherheitsinstanzen waren nicht in der Lage, bei diesen Anschlägen eine rechtsterroristische Spur zu entdecken. Die Schuppen fielen ihnen erst im Herbst 2011 von den Augen, als die Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) aufflog, der diese Taten angelastet werden. Bis dahin blieben Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe über ein Jahrzehnt unbehelligt

Der Untersuchungsausschuss sollte die Missgriffe bei den Ermittlungen durchleuchten, und tatsächlich dokumentieren die elf Abgeordneten in ihrem Abschlussbericht (17/14600) ein fatales Scheitern der Behörden. Zu Zeiten des RAF-Terrors unterliefen Fahndern ebenfalls Fehler, auch die linksterroristischen Morde sind nicht sämtlich aufgeklärt. Aber dass Polizei und Verfassungsschutz bei einer Erschießungsserie, zu der sich noch Sprengstoffattentate und Banküberfälle gesellten, komplett blind blieben, das gab es in der Bundesrepublik noch nie.

Zwingende Lektüre

Die Parlamentarier haben das NSU-Debakel als kollektiven Blackout der Behörden akribisch aufgearbeitet und fast 50 Reformvorschläge als Konsequenz aus dem Versagen vorgelegt. Die mehr als 1.300 Seiten sind gewiss nicht leicht, aber gleichwohl spannend zu lesen - eine unverzichtbare Lektüre für die Experten im Bundestag, in Ministerien sowie bei Polizei und Geheimdiensten.

Schon während der Sitzungen des Ausschusses und auch in der Plenardebatte zum Abschlussbericht in der vergangenen Woche haben der Ausschuss-Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD) und die Fraktionsobleute harte Gesamturteile gefällt. Edathy nannte das Fiasko "eines Rechtsstaats unwürdig". Linken-Sprecherin Petra Pau geißelte einen "Ermittlungs-GAU". Unions-Obmann Clemens Binninger wollte es nicht in den Kopf, warum man die Tätersuche auf die organisierte Kriminalität beschränkte - wo doch ein ausländerfeindliches Motiv "auf der Hand lag".

Der Bericht stützt seine massive Kritik auf eine Fülle von Details. Die Parlamentarier fanden nicht einen Kardinalfehler, auf den allein das Fiasko zurückzuführen ist, aber viele Missgriffe und Pannen, deren Vermeiden die Chance auf eine Ergreifung des NSU-Trios erhöht hätte.

Ungestört abgetaucht

Mehrfach verdeutlicht der Bericht ein Kernproblem: Hinweise und Spuren wurden nicht adäquat ausgewertet. Auf Beifall stieß im Ausschuss eine These Heinz Fromms, der wegen der NSU-Affäre seinen Hut als Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) nehmen musste: "Borniertheit" und "analytische Engführung" seien im Spiel gewesen, man habe die rechtsextreme Ideologie nur unzureichend begriffen und sich das Entstehen kleiner Terrorzellen nicht vorstellen können.

Als das Trio Anfang 1998 abtauchte, entdeckte die Polizei in einer Jenaer Garage Adressen von Rechtsextremisten, vor allem in Sachsen, wo die Gruppe Unterschlupf gefunden hatte. Hätte das Thüringer Landeskriminalamt (LKA) diese Liste genutzt, was nicht geschah, wäre die Zelle wohl ins Netz der Fahnder gegangen - und zur Mordserie wäre es vermutlich nicht gekommen. Noch ein zweites Mal war man am NSU nahe dran: Nach dem Kölner Nagelbombenanschlag von 2004 hätte die Polizei nur in der Sprengstoffdatei des Bundeskriminalamts (BKA) nachschauen müssen, und Böhnhardt wie Mundlos wären ins Visier geraten - doch das unterblieb.

Im Bericht wimmelt es von Hinweisen auf die mangelnde Kooperation, ja das Gegeneinander-Arbeiten von Behörden, bei dem föderale Strukturen massiv an ihre Grenzen stießen. In Bayern verließ sich die Nürnberger Soko "Bosporus" vergeblich darauf, dass der Geheimdienst des Landes bundesweit nach eventuell als Täter in Frage kommenden Rechtsextremisten forscht. In Brandenburg unterrichtete ein Spitzel den Verfassungsschutz über Versuche der untergetauchten Gruppe, an Waffen zu gelangen - doch die heiße Information erreichte das LKA in Erfurt nicht. In Thüringen lieferten sich LKA und Geheimdienst einen regelrechten Kleinkrieg,

Innerhalb des Geheimdienstverbunds herrschte zudem ein Verwirrspiel über V-Leute: Das BfV unterrichtete Landesämter über eigene Spitzel, etwa bei der "Operation Rennsteig" in Thüringen - umgekehrt geschah dies jedoch nicht. Mit dem brisanten Thema V-Leute befasst sich der Bericht deshalb ausführlich. Die Abgeordneten waren schockiert, dass Spitzel teilweise strafrechtlich verurteilt waren, zuweilen hohe Vergütungen kassierten und mit dem Geld auch die rechtsextreme Szene sponserten.

Schablonenhafte Ermittlung

Auch die Tatwaffe wurde nicht frühzeitig bei einem Mittelsmann in der Schweiz entdeckt, obwohl dieser bereits im BKA-Visier war. Die Soko "Bosporus" musste E-Mail-Anfragen beim BfV auf dem gleichen Weg stellen wie jeder andere Bürger. Unter Wolfgang Schäuble (CDU), 2006 Bundesinnenminister, wurde damals nicht dem Ansinnen des BKA nachgekommen, die Ermittlungen in dieser Behörde zu zentralisieren. Schäubles Vorgänger Otto Schily (SPD) verneinte 2004 nach dem Kölner Attentat vorschnell einen terroristischen Hintergrund.

Es war nicht so, dass die Polizei gar nicht in Richtung Rechtsterrorismus geschaut hätte. Entsprechende Hinweise fanden sich freilich nicht, unter anderem deshalb, weil in Nürnberg nur in einem lokal sehr eng gefassten Bereich recherchiert wurde. Warum aber, fragen sich die Parlamentarier, wurde die rechtsterroristische Spur nicht näher geprüft, nachdem die Theorie von der organisierten Kriminalität nichts gebracht hatte? Edathy monierte, es sei mit "Scheuklappen" und "schablonenhaft" ermittelt worden. Auf einen "strukturellen Rassismus" sei man jedoch nicht gestoßen, genauso wie sich keine Anhaltspunkte für eine "Kumpanei" zwischen Behörden und NSU gefunden hätten. Zudem existieren keine Indizien für eine Spitzeltätigkeit des Trios.

Nach der Durchleuchtung des Versagens richtet sich nun der Blick nach vorn. Mit ihren Vorschlägen verbinden die Abgeordneten den Appell an den nächsten Bundestag, diese Reformen auch anzupacken. SPD-Obfrau Eva Högl: "Der Bericht darf nicht in Schubladen verschwinden."

Zu dem Katalog gehört etwa die Forderung nach einer besseren Zusammenarbeit zwischen den Behörden - was einfach gesagt ist, wegen des Eingriffs in Kompetenzen indes Konfliktpotential in sich birgt. In bedeutsamen länderübergreifenden Fällen müsse eine "zentrale ermittlungsführende Dienststelle" geschaffen werden. Erweitern will der Ausschuss die Befugnisse des Generalbundesanwalts, der gravierende Delikte leichter an sich ziehen können soll. Sinnvoll sei auch eine polizeiliche Einheit, die ungelöste Fälle immer mal wieder neu prüft. Die Behörden benötigten mehr "interkulturelle Kompetenz". Die Parlamentarier verlangen, bei Gewaltdelikten an Migranten stets auch ausländerfeindliche Motive zu prüfen, sofern Hinweise nicht in andere Richtungen weisen. Unabdingbar sei eine bessere parlamentarische Kontrolle des Geheimdiensts. Die Frage nach Eignung, Auswahl und Arbeit von V-Leuten müsse neu geregelt werden. Für Speicherung, Archivierung und Löschung von Akten bedürfe es klarer Vorgaben. Viel Gewicht misst der Ausschuss außerdem einer verstärkten Präventionsarbeit zu.

Chancenlose Sondervoten

SPD, FDP, Linke und Grüne haben dem Bericht noch Sondervoten angefügt. Die Union hat das nicht getan, um dessen "Schlagkraft" nicht zu schwächen. Die SPD plädiert für einen personellen Neuanfang in der Abteilung Rechtsextremismus im BfV, die nach Berlin ziehen soll. Linke und Grüne wollen den Einsatz von V-Leuten generell beenden, die Linke möchte den Inlandsgeheimdienst ganz abschaffen, die Grünen wollen das BfV auflösen und neu aufbauen - Vorstöße, die chancenlos sind.

Auch die Idee der Liberalen, wegen ungeklärter Fragen im nächsten Bundestag erneut einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, bleibt ohne Resonanz. Mit dem Bericht, betont die Union, sei der Auftrag "erfüllt".