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Elefantenehe in zwei Durchgängen

GROSSE KOALITION Eine Bilanz der bisherigen Bündnisse von Union und SPD

28.10.2013
2023-08-30T12:24:06.7200Z
8 Min

Im letzten Jahr ihres Regierungsbündnisses war es mit der Eintracht vorbei. Je näher die Bundestagswahl vom 28. September 1969 rückte, desto mehr zerfiel die Koalition in zwei sich befehdende Lager. Die Gemeinsamkeiten zwischen Union und SPD waren aufgebraucht, die Gegensätze nicht mehr zu überbrücken. Beide Partner empfanden die drei Jahre zuvor geschlossene politische Vernunftehe zunehmend als Fessel, aus der sie sich zu befreien trachteten. Zwar trauten sich weder Christ- noch Sozialdemokraten, die erste Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik vorzeitig platzen zu lassen. Aber es stimmte, was der Kommentator der "Neuen Ruhr-Zeitung" im Juli 1969 schrieb: "Sprechen wir es offen aus: Die Koalition ist im Eimer."

Nachdem das Regierungsbündnis aus CDU/CSU und FDP im Oktober 1966 zerbrochen und Kanzler Ludwig Erhard (CDU) Ende November zurückgetreten war, erkannten führende Politiker von Union und SPD, dass sie die in die Rezession gerutschte Wirtschaft nur gemeinsam wieder auf Wachstumskurs bringen könnten. Bereits am 1. Dezember konnte der bisherige baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Kanzler sein neues Kabinett aus zehn Ministern der Union und neun der SPD vorstellen, darunter politische Schwergewichte wie der SPD-Chef Willy Brandt (Vizekanzler und Außenminister), Karl Schiller (SPD) als Wirtschafts- und der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß als Finanzminister sowie Hans Katzer (CDU) als Arbeitsminister.

Vertrauliche Sondierung

Bis dahin hatten CDU und CSU die Bonner Republik regiert, zumeist mit der FDP. Nun bot sich für die SPD Gelegenheit, ihre Regierungsfähigkeit auch im Bund zu beweisen. Darauf hatte sie lange hin gearbeitet, allen voran Parteivize Herbert Wehner. Überzeugt, dass eine SPD-Kanzlerschaft nur über die Zwischenstation eines Bündnisses mit der Union zu erreichen sei, hatte er bereits 1962 die Möglichkeiten einer Großen Koalition sondiert. Vertraulicher Gesprächspartner war dabei der CSU-Politiker Karl Theodor zu Guttenberg, der Großvater des gleichnamigen späteren Verteidigungsministers. Der sollte im Auftrag von Kanzler Konrad Adenauer (CDU) ausloten, unter welchen Bedingungen die SPD zur Regierungskooperation bereit sei. Adenauers Hintergedanken: Weil er die FDP für unzuverlässig hielt, wollte er sie über die Einführung eines Mehrheitswahlrechts los werden. Das ging nur mit der SPD, die dazu aber damals nicht bereit war.

Vier Jahre später waren Wehner und Guttenberg maßgeblich daran beteiligt, das Bündnis zu schmieden. "In der Führung der SPD ist Wehner die treibende Kraft, die die Große Koalition will", schrieb Guttenberg in seinen Erinnerungen. Auch Helmut Schmidt gehöre im Gegensatz zum zögerlichen Brandt zu den Befürwortern. Der CSU-Politiker wurde Parlamentarischer Staatssekretär im Kanzleramt, Wehner Minister für Gesamtdeutsche Angelegenheiten. Beide verband ein Vertrauensverhältnis. "Ich sage es ihm nicht, aber ich fühle mich als Freund Herbert Wehners", bekannte Guttenberg. "Ich habe keine Geheimnisse vor ihm und ich weiß aus Erfahrung, dass ich mich auf ihn verlassen kann."

Während die Mehrheit der Bundesbürger der Regierungsbildung aufgeschlossen gegenüber stand, gab es in den Parteien und Medien Vorbehalte. "Große Koalition bedeutet kleine Opposition und wenig Kontrolle", schrieb Theo Sommer in der Wochenzeitung "Die Zeit". Das Parlament dürfe "nicht zum Anhängsel der übermächtigen Regierung werden". Seine Befürchtung erwies sich als unbegründet. Dafür sorgten vor allem die beiden Chefs der Koalitionsfraktionen, Rainer Barzel (CDU) und Helmut Schmidt (SPD). Ausgestattet mit starkem Selbstbewusstsein, sahen sie sich auch als Kontrolleure und Antreiber der Regierung. Das Duo bildete eine stabile Achse der Koalition, räumte geräuschlos Probleme beiseite und bewährte sich im Gegensatz zu anderen Akteuren bis zuletzt. "Wir waren Kollegen, die sich immer auf das Wort des anderen verlassen konnten", sagte Schmidt einmal. "Daraus ist Freundschaft geworden - zum Missvergnügen mancher Leute in der SPD und auch in der CDU."

Ein Kraftakt

Wohl wissend, wie kritisch es um die Staatsfinanzen stand, konzentrierte sich die Regierung auf die Konsolidierung von Währung und Wirtschaft. Das gelang in einem Kraftakt, an dem der Finanz- und der Wirtschaftsminister entscheidend beteiligt waren. Die ökonomische Krise wurde durch Konjunkturprogramme beseitigt. Auftragsbücher füllten sich wieder, Etats kamen ins Gleichgewicht. "Mittelfristige Finanzplanung", "Globalsteuerung" und "Konzertierte Aktion" wurden neue politische Begriffen. Strauß und Schiller, die auch eine neue Finanzverfassung zur Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern durchsetzten, wurden zum legendären Gespann "Plisch und Plum". Die Harmonie endete ernst, als sich Strauß vom Strahlemann Schiller in der öffentlichen Wahrnehmung abgehängt fühlte und mit ihm in heftigen Streit um die D-Mark-Aufwertung geriet.

Das Verhältnis zwischen Kiesinger und Brandt belastete das Bündnis dagegen von Anfang an. Der Kanzler hielt seinen Vize, wie der Historiker Arnulf Baring schrieb, "für politisch unerheblich. Er überging ihn daher nach Möglichkeit und konzentrierte sich stattdessen auf Wehner". Und Brandt habe im einstigen NSDAP-Mitglied Kiesinger den "alten Nazi" gesehen und ihn überdies für einen "eitlen Schwätzer" gehalten. Die Abneigung wurde noch dadurch verschärft, dass sich der Außenminister in seinen ostpolitischen Ambitionen vom Kanzleramt gegängelt fühlte.

Obwohl die Koalition im Streit endete, erhielt sie von den Akteuren wie Medien überwiegend gute Noten. "Ihre Leistungen können sich sehen lassen", bilanzierte Kiesinger, und Brandt erklärte, "die Arbeit war ganz überwiegend erfolgreich". Tatsächlich wurden Finanzen und Wirtschaft saniert sowie zahlreiche andere Vorhaben umgesetzt, von der Notstandsverfassung bis zur Durchforstung der Sittenparagraphen. "Die Große Koalition", lobte Marion Gräfin Dönhoff in der "Zeit", habe "mehr liberale Reformen ermöglicht als die fünf vorangegangenen Kabinette."

Bis Union und SPD nach der sozialliberalen Ära, der langen Regierungszeit von Helmut Kohl (CDU) und der rot-grünen Epoche erneut gemeinsam regieren sollten, vergingen 36 Jahre. Die Ausgangslage war freilich anders. 1966 war die Union nach der gescheiterten Regierung von Ludwig Erhard geschwächt und musste zum Machterhalt die SPD ins Boot holen. Nach der Wahl vom 18. September 2005 gab es eigentlich zwei Verlierer. Zwar hatte die SPD dank des fulminanten Wahlkampf-Einsatzes ihres Kanzlers Gerhard Schröder den von Meinungsforschern festgestellten Abstand zur CDU/CSU deutlich verkürzt, aber am Ende reichte es nicht, um stärkste Fraktion zu werden. Um ein Prozent hatte die Union trotz erheblicher Verluste die Nase vorn, zu wenig freilich, um mit dem erklärten Wunschpartner FDP regieren zu können. Da die SPD eine Kooperation mit der Linkspartei ablehnte und eine schwarz-gelb-grüne "Jamaika"-Koalition ebenso wie eine rot-gelb-grüne "Ampel" nicht ernsthaft erwogen wurden, sahen sich Sozial- und Christdemokraten trotz heftiger Bedenken zum zweiten Mal zur Kooperation genötigt.

Rot-Grün war abgewählt, aber der Kanzler wollte es nicht wahrhaben. Berauscht vom Erfolg seiner Aufholjagd erklärte sich Schröder am Wahlabend zum Sieger: "Ich fühle mich bestätigt, für unser Land dafür zu sorgen, dass es auch in den nächsten vier Jahren eine stabile Regierung unter meiner Führung gibt." Die Union hielt dagegen, sie sei stärkste Fraktion geworden, weshalb ihrer Spitzenkandidatin Angela Merkel die Führungsrolle gebühre. Diesem Anspruch konnte sich die SPD nicht lange verschließen. Auch Schröder sah ein, dass er zu hoch gepokert hatte. Als dann bekannt wurde, dass SPD-Chef Franz Müntefering ("Opposition ist Mist") erwäge, Vizekanzler in einer Großen Koalition zu werden, schwanden bei den Genossen die Bedenken gegen ein Bündnis mit Merkel als Kanzlerin. Damit war der Weg zu Verhandlungen mit der Union geebnet.

Auf Augenhöhe

Die jeweils siebenköpfigen Abordnungen, die sich Ende September gleichsam auf Augenhöhe zum Koalitions-Poker trafen, hatten beide ein Problem. Die SPD sah sich wegen Schröders Agenda-Politik von einem Teil der Wähler abgestraft. Und die Union musste erkennen, dass ihr stark marktwirtschaftlich ausgerichtetes Reformprogramm beim eigenen Anhang nicht besonders gut angekommen war. Beide Lager zogen daraus den Schluss, ihre künftige gemeinsame Politik stärker an den Interessen der "kleinen Leute", sprich Arbeitnehmer, Rentner und sozial Schwache, auszurichten. Der Forderung der SPD, das Regierungsprogramm müsse eine starke sozialpolitische Einfärbung haben, kam die Union weit entgegen. Ihre Führung verabschiedete sich von Reformvorhaben wie dem Abbau des Kündigungsschutzes, sprach auffallend häufig von Solidarität und umgarnte die Gewerkschaften. Als Überschrift für ihr Regierungsprogramm wählen die Koalitionäre die Überschrift: "Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit." Die Arbeit konnte beginnen.

Um die geplanten Wohltaten für die Bürger finanzieren zu können, brauchte die neue Regierung mehr Geld. Ungeachtet der Warnungen aus den Reihen der Wirtschaft erhöhte sie die Mehrwertsteuer um drei Prozent. Das werde die Konjunktur ersticken, meinten Kritiker. Doch die Wirtschaft wuchs, die Arbeitslosigkeit sank, die Steuereinnahmen sprudelten. Subventionskürzungen bei der Eigenheimzulage, beim Sparerfreibetrag und bei der Pendlerpauschale trugen ebenfalls zur Konsolidierung der Staatsfinanzen bei. Neue Akzente gab es bei der Familienpolitik. Das Elterngeld wurde eingeführt, die Kitas wurden nach Vorarbeit der SPD ausgebaut. Die Ruheständler bekamen einen außerplanmäßigen Zuschlag und die Garantie, das die Renten nicht sinken können.

Was sich in den Koalitionsverhandlungen angedeutet hatte, setzte sich in der Regierung fort. Feindseligkeiten der Vergangenheit verflüchtigten sich, aus Gegnern wurden Partner. Die Kanzlerin sorgte für ein "kameradschaftliches" Klima und forderte die Unions-Abgeordneten auf, mit den Sozialdemokraten "mal ein Bier zu trinken". Wie in der ersten Großen Koalition war das Kabinett mit erfahrenen Ministern bestückt. Die SPD hatte mit Franz Müntefering (Arbeit und Soziales), Peer Steinbrück (Finanzen) und Frank-Walter Steinmeier (Auswärtiges Amt) Schlüsselstellungen inne. Die Union bot etwa mit Wolfgang Schäuble (Inneres) und Ursula von der Leyen (Familie, Senioren, Frauen und Jugend) ebenfalls gestandene Politiker auf, litt aber darunter, dass CSU-Chef Edmund Stoiber als designierter Wirtschaftsminister nicht antrat. Wie einst Schmidt und Barzel sorgten die freundschaftlich verbundenen Fraktionschefs Volker Kauder (CDU) und Peter Struck (SPD) dafür, dass Kabinettsbeschlüsse im Parlament von der Koalition möglichst geschlossen verabschiedet wurden.

Nicht nur Erfolgsgeschichte

Ihre schwerste Bewährungsprobe bestand die Koalition nach dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise. Als Merkel und Steinbrück öffentlich die Spareinlagen der Deutschen garantierten, sorgten sie dafür, dass die Bevölkerung nicht in Panik geriet. In Rekordtempo wurde ein Bankenrettungspaket durch den Bundestag gebracht. Es folgten ein Rettungsfond für bedrohte Unternehmen und zwei Konjunkturpakete. Damit schaffte es die Regierung, das Land durch die Krise zu steuern. Gleichwohl war diese Koalition keine reine Erfolgsgeschichte. Vieles blieb Stückwerk, etwa bei der Gesundheitsreform und der Pflegeversicherung. Die Konzepte der Partner passten einfach nicht zusammen. Der Reformbedarf blieb hoch, ebenso die Staatsschulden.

Unterm Strich hat die zweite Große Koalition besser gearbeitet, als ihr viele Kritiker zugetraut haben, ist aber hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben. Der Lohn der Wähler fiel unterschiedlich aus. 2005 lagen Union und SPD fast gleichauf. Bei der Wahl 2009 bekamen CDU und CSU 33,8 Prozent der Stimmen und konnten fortan mit der gestärkten FDP weiter regieren. Die SPD fiel auf 23 Prozent zurück und landete in der Opposition.

Der Autor arbeitet als

freier Journalist in Berlin.