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Lebensversicherungen unter Druck

Finanzen I Das Problem der Bewertungsreserven muss von der neuen Regierungskoalition bald gelöst werden

28.10.2013
2023-08-30T12:24:06.7200Z
5 Min

Das hätten sich die meisten Bundestagsabgeordneten wohl nicht träumen lassen. Ende 2012 beschlossen sie, die Ausschüttungspflichten für Lebensversicherer zu ändern. Alles hörte sich harmlos an. Die Novelle wurde einer anderen Reform als Begleitgesetz angehängt. Welche Wucht ihre Entscheidung hatte, wurde vielen erst später klar. Es regte sich heftiger Protest. In vielen Wahlkreisbüros gingen harsche Wortmeldungen von Verbrauchern ein. Das ließ die Parlamentarier umdenken: Zunächst musste die Finanzaufsicht einen Kompromiss vorlegen, der schließlich ebenfalls kassiert wurde. Vor allem die Grünen drangen darauf, das Vorhaben im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag endgültig zu kippen.

Doch was war eigentlich passiert? Vor fünf Jahren - im ersten Finanzkrisenjahr 2008 - trat eine Neuregelung in Kraft, vor der Versicherer lange vergeblich gewarnt hatten. Weil sie mit dem Geld ihrer Kunden über viele Jahrzehnte Werte gesammelt hatten, an denen die Verbraucher nicht teilhatten, sah der Gesetzgeber Reformbedarf. Er zielte vor allem auf Aktien und Immobilien, deren Marktwerte weit über ihren Anschaffungspreis gestiegen waren. Diese Reserven ließen die Unternehmen bilanziell gut dastehen, ohne den Kunden zu nützen.

Reserven gestiegen

Doch an eines hatte der Gesetzgeber offenkundig nicht gedacht: Wenn die Kapitalmarktzinsen sinken, steigen automatisch die Kurse festverzinslicher Wertpapiere. (siehe Beitrag unten rechts) Dann bilden sich Bewertungsreserven auf Staats- und Unternehmensanleihen, auf Pfandbriefe und Genussscheine. Das sind die Wertpapiere, aus denen Lebensversicherer zu 80 bis 90 Prozent ihre Kapitalanlage bestreiten. Die Branche kritisierte frühzeitig, bei der Neuregelung gebe es keine Ausnahme für Festverzinsliche. Anfangs zeigte sich der Effekt nicht so stark. Im Jahr 2012 aber fiel der Marktzins erheblich, angetrieben von der expansiven Geldpolitik und den schwachen Wachstumsaussichten. Die Reserven stiegen stark.

Die Neuregelung sah vor, Kunden, deren Vertrag ausläuft, zur Hälfte an diesen Reserven zu beteiligen. Somit war klar, dass vom Niedrigzins solche Verbraucher profitierten, deren Police demnächst ausliefe. Gleichzeitig wurde es für die Unternehmen wegen der schlechten Zinssituation schwerer, Geld anzulegen. Jeden Tag muss die Branche die millionenschweren Beiträge ihrer Kunden neu investieren. Somit entwickelte sich ein Gerechtigkeitsproblem: Auf der einen Seite mussten sie Bestandskunden die Überschussbeteiligung kürzen. Auf der anderen Seite waren sie gezwungen, großzügig Mittel an abgehende Kunden auszuschütten. Ihr überproportionaler Anteil an den Gewinnen stand ihnen nach dem Willen des Gesetzgebers zu.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft begann, intensive Lobbyarbeit zu betreiben. Er erweckte den Eindruck, die Unternehmen müssten Papiere mit hohen Zinsversprechen veräußern, um ihrer Ausschüttungspflicht nachkommen zu können. Dabei schien es mehr um die Nutzungskonkurrenz ihrer Überschüsse zu gehen. Um sicherzustellen, dass auch solche Kunden dauerhaft bedient werden können, die vor einigen Jahren Verträge mit einer Garantie von vier Prozent abgeschlossen hatten, verlangte die Aufsicht weitere Sicherheiten. So lange ein Referenzzinssatz europäischer Staatsanleihen unter dem Garantiezins liegt, müssen Versicherer eine Zinszusatzreserve bilden. Auch dieses Geld müssen sie aus ihren laufenden Überschüssen nehmen. Außerdem stehen sie unter Druck, sich auf die künftigen Eigenkapitalregeln Solvency II vorzubereiten. Anders als im bisherigen Regelwerk wird das aufsichtsrechtlich notwendige Kapital nach den eingegangenen Risiken bestimmt. Je stärker die Laufzeit ihrer Verpflichtungen und ihrer Geldanlagen auseinanderfallen, die sie zu ihrer Erfüllung getätigt haben, desto größere Kapitalzuschläge fallen an.

Von drei verschiedenen Seiten entsteht also Druck auf die Unternehmen. Zunächst drang die Branche mit ihrer Lobbyarbeit durch. Dabei entstanden aber Kollateralschäden. Der Finanzausschuss des Bundestags verlangte von der Aufsichtsbehörde BaFin eine Zustandsbeschreibung. Die Behörde, die regelmäßig Stresstests durchführt, um die Finanzstabilität der Lebensversicherer zu prüfen, sieht die Lage vergleichsweise gelassen: Auf mittelfristige Sicht sei mit keinen Schieflagen zu rechnen. Diese beschwichtigende Aussage drang an die Presse - allerdings mit einem dramatischeren Tenor: Ein Fünftel der Branche könne vom Jahr 2018 an möglicherweise seine Garantien nicht mehr erfüllen - der GAU der Versicherungswirtschaft.

Aus einem Gerechtigkeitsthema wurde nun das Thema "Lebensversicherern steht das Wasser bis zum Hals, und nun betteln sie um Erleichterungen". Die damaligen Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP ließen sich überzeugen. Doch für die Verbraucher stand eine banale materielle Frage im Vordergrund: Nach Gesetzeslage stand ihnen Geld zu. Immerhin hatten Versicherungsvermittler einst mit viel zu optimistischen Prognosen für ihre Produkte geworben. Nun wollte die Politik ihren Anteil an den milliardenschweren Reserven wegnehmen. Aus dem Blick geriet dabei, dass die Regelung erst seit fünf Jahren bestand und ursprünglich eine andere Absicht verfolgt hatte. Denn der Gesetzgeber wollte ja Verbraucher an den langfristig steigenden Vermögenswerten beteiligen.

Inzwischen verhandeln die Union und die vormalige Oppositionspartei SPD über eine Koalition im Bund. Dabei stehen auch die Bewertungsreserven auf der Tagesordnung. Was hat sich in der Zwischenzeit getan? Vor kurzem hat der Ludwigshafener Betriebswirtschaftsprofessor Hermann Weinmann seine jährliche Bilanzanalyse der zwölf größten Lebensversicherer vorgelegt. Sein Fazit: Keiner von ihnen war durch die Regelung gezwungen, hochverzinste alte Wertpapiere zu veräußern, um die Beteiligung an den Reserven stemmen zu können. Vielmehr sei es gut dastehenden Unternehmen wie der Allianz sogar gelungen, durch geschickte Umschichtungen ihres Portefeuilles eine höhere laufende Verzinsung als im Vorjahr zu erzielen. Zudem hätten sie sich so noch etwas unabhängiger von Staatspapieren gemacht.

Auch die Reformdebatte ist fortgeschritten. Für den Bundesverband der Verbraucherzentralen schaltet sich der Versicherungsexperte Lars Gatschke immer wieder mit konstruktiven Vorschlägen ein. Er sieht eine Benachteiligung von Kunden, wenn sie nicht mehr an den Reserven beteiligt werden. Gleichzeitig erkennt er das Argument an, dass diese sich als Scheinreserven entpuppen, wenn sie bis zum Ende ihrer Laufzeit gehalten werden.

Deshalb schlägt er einen anderen Weg vor: Versicherer erzielen ihre Gewinne aus Zinsertrag, Risiko- und Kostenüberschuss. Zunächst müssen sie ihre Garantieversprechen erfüllen. Was übrig bleibt, können sie auf drei Töpfe verteilen: einen für die laufende Überschussbeteiligung (Überschusstopf), einen für die mehrjährige Glättung ihrer Erträge (Glättungstopf, im Fachjargon freie Rückstellungen für die Beitragsrückerstattung oder kurz RfB) und einen für die Schlussüberschussanteile (Schlusstopf), die dem Kunden erst zum Ende des Vertrags gewährt werden, damit er einen Anreiz durchzuhalten hat.

Gatschke schlägt vor, abgehende Lebensversicherungskunden an dem Glättungstopf zu beteiligen. Denn hat der Versicherer hier Geld abgelegt und damit zusätzliche Sicherheiten geschaffen, haben Kunden mit auslaufendem Vertrag nichts davon. Dabei haben ihre Beiträge diese Erträge erst möglich gemacht. Viele Vorstände haben Sympathie dafür bekundet. Es wird spannend zu sehen sein, ob auch die Politik sich überzeugen lässt.

Der Autor ist Wirtschaftsredakteur

der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".