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Angstlektüre

TTIP Das Freihandelsabkommen lässt Kulturschaffende und Politiker um die kulturelle Vielfalt Deutschlands bangen

30.06.2014
2023-08-30T12:26:16.7200Z
4 Min

Rund 15.000 Seiten könnte der Vertragstext des angestrebten Freihandelsabkommens TTIP zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika am Ende umfassen, schätzt Christian Höppner. Für den Präsidenten des Deutschen Kulturrates ist das Vertragswerk, mit dem umfassend Handelshindernisse zwischen den beiden Wirtschaftsriesen EU und USA abgebaut werden sollen, schon jetzt eine wahre Angstlektüre. Denn nach Ansicht Höppners wie auch vieler Künstler, Kulturschaffender und Politiker könnten in dem Abkommen Regeln festgeschrieben werden, die die vielfältige Kulturlandschaft in Europa und Deutschland zur Disposition stellen.

Zu unterschiedlich seien die Kulturbegriffe diesseits und jenseits des Atlantiks lautet das gängige Credo der Kulturhüter. Überspitzt formuliert: Wo ein Deutscher in einem Buch ein Kulturgut erkennt, sehen die Amerikaner lediglich eine Handelsware. Und Handelswaren sollen ohne alle Hemmnisse verkauft werden können - am besten online über große Versandhändler wie Amazon. Wer braucht schon den kleinen Buchladen um die Ecke? Buchpreisbindung? In den USA ein Fremdwort.

Unesco-Konvention

Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) kann davon ein Lied singen. Der amerikanische Botschafter in Berlin habe ihr bestätigt: "In den USA besteht kein Verständnis für starke kulturelle Förderung durch den Staat, sie wird als Protektionismus gesehen." Ganz anders in Europa. "Die staatliche Privilegierung der Kultur ist für uns alle Teil des deutschen und europäischen Selbstverständnisses", betonte Grütters Ende Mai auf einer Veranstaltung der Akademie der Künste in Berlin mit dem

vielsagenden Titel "Verteidigt die Kultur".

Immerhin scheint die EU durchaus auch willens, dieses kulturelle Selbstverständnis auch verteidigen zu wollen. Eine generelles Ausklammerung des Kulturbereichs aus den Verhandlungen konnte zwar nicht erreicht werden. Aber in das EU-Verhandlungsmandat wurde ein Passus aufgenommen, dass das Freihandelsabkommen keine Bestimmungen enthalten darf, die der Unesco-Konvention zu Schutz der kulturellen Vielfalt zuwiderläuft und das Recht der EU-Mitgliedstaaten auf eine selbstbestimmte Kulturpolitik aushebelt. Kritiker bezweifeln allerdings, dass dieser Passus ausreichend Schutz gegen andere Begehrlichkeiten bietet. Zum einen sind die USA der Unesco-Konvention nie beigetreten. Zum anderen: "Wer wird denn letztlich darüber entscheiden, ob ein Vertragsbestandteil die kulturelle Vielfalt bedroht oder nicht?", fragt etwa Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Kulturrats. Er lässt die Antwort offen.

Die Fronten im Streit um TTIP verlaufen mitunter quer durch die Bundestagsfraktionen und die Regierung. CDU/CSU und SPD begrüßen das Freihandelsabkommen prinzipiell und erhoffen sich neue Impulse für die Wirtschaft und die Entstehung neuer Arbeitsplätze. Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen hingegen lehnen es entweder ganz ab oder aber betrachten es mit größten Bauchschmerzen. Die Opposition befürchtet etwa einen Abbau europäischer Standards beim Umwelt-, Daten- und Verbraucherschutz. Die Angst um die Kulturlandschaft aber treibt Politiker in allen Lagern um. So macht auch Staatsministerin Grütters keinen Hehl daraus, dass sie den Kultursektor durch eine entsprechende Klausel im Abkommen geschützt sehen will.

Positivlisten

Eine Schutzklausel für die Kultur wird aber schon deshalb schwer zu realisieren sein, weil im Gegensatz zu früheren Handelsabkommen bei TTIP und ebenfalls bei den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen EU und Kanada (CETA) nicht mit Positiv-, sondern mit Negativlisten gearbeitet wird. Vereinfacht ausgedrückt, es wird nicht bestimmt, über welche konkreten Bereiche Verhandlungen geführt werden, sondern über welche nicht. Doch auf einer solchen Negativliste lassen sich die Grenzen des Kultursektors nur schwer ziehen. Lediglich die audiovisuellen Medien wurden auf Druck Frankreichs zumindest vorerst aus den TTIP-Verhandlungen ausgeklammert, weil den Franzosen die Förderung des heimischen Films geradezu heilig ist. Ansonsten steht vorerst alles zur Verhandlung - mit derzeit noch unabsehbaren Folgen.

Bedroht, so lauten Befürchtungen, seien letztlich alle Formen staatlicher Kulturförderung, wenn sie als Handelshindernisse oder wettbewerbsverzerrend eingestuft werden sollten. "Kultur als Handelsware", so führte Ulle Schauws, Kulturpolitikerin der Grünen, in den Haushaltsberatungen der vergangenen Woche aus, "ist ein Worst-Case-Szenario." Staatsministerin Grütters müsse sicherstellen, dass der Schutz für die Kultur im TTIP garantiert wird.

Der CDU-Abgeordnete Michael Fuchs hatte ein ganz anderes Worst-Case-Szenario zur Hand: "Wir alle wissen, dass die Amerikaner zurzeit auch über ein transpazifisches Abkommen verhandeln. Wer als Erster fertig ist, der setzt die Normen. Wenn die Amerikaner zuerst mit den pazifischen Ländern die Normen gesetzt haben, werden sie mit uns nicht noch einmal ändern, sondern sagen: Dann nehmt doch bitte die Normen, die wir mit den pazifischen Ländern vereinbart haben." Im Klartext: Europa und Deutschland hätten das Nachsehen, Wachstum und Arbeitsplätze wären gefährdet.

Gemischtes Abkommen

Bei TTIP-Befürwortern wie Gegnern herrschen Ängste und sie werden mitunter bewusst geschürt. Dies funktioniert umso besser, da sich weder die amerikanische Seite noch die EU von der Öffentlichkeit in die Karten schauen lassen während der Verhandlungen. So dürfen sich die Bürger entscheiden, vor welchem Angstszenario sie sich nun mehr fürchten sollen.

Selbst die letzte Sicherung zum Schutz vor unliebsamen Überraschungen scheint zur Disposition zu stehen. Die Bundesregierung weist zwar oft und gerne darauf hin, dass es sich bei TTIP um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handele. Das heißt, nicht nur das Europäische Parlament und der Europäische Rat, sondern auch die nationalen Parlamente aller 28 EU-Mitgliedstaaten müssten es absegnen. Doch EU-Handelskommissar Karel de Gucht sieht das offenbar anders und behält sich vor, diese Frage vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen.