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Rudi Dutschke : Nerd der Revolution

Die Stimme und das Gesicht der Studentenrevolte wäre in diesen Tagen 75 Jahre alt geworden

02.03.2015
2023-08-30T12:27:57.7200Z
8 Min

Rudi Dutschke ist ein Mythos. Er war die Stimme der Studentenrevolte, und er war ihr Gesicht. Die schwarze Haarsträhne, die während seiner hämmernden Reden über die Augen zuckte, die scharfe Artikulation, die Worte gedehnt, so war er sich des Beifalls der studentischen Auditorien sicher. Geboren im brandenburgischen Luckenwalde, Mitglied der Jungen Gemeinde, Abitur in der DDR, Student an der FU in West-Berlin und Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), nach eigenem Bekunden „Berufsrevolutionär“. 1968 wurde er von einem verhetzten Attentäter schwer verletzt und starb 1979 an den Spätfolgen des Mordanschlags. Am 7. März würde Rudi Dutschke seinen

75. Geburtstags feiern.

Sein Leben war gezeichnet von Aufbegehren und von Hoffnung auf eine bessere Welt. Er suchte nach einer Wahrheit, von der er sich in illusionslosen Momenten eingestand, dass sie nie „absolut“ sein könnte, obwohl er den Absolutheitsanspruch für sich selbst niemals abstreifen konnte – nicht als Christ, nicht als Marxist, nicht als Revolutionär. Das Grauen des Krieges hatte sich in ihm eingegraben. „Mit Beten begann ich schon in den 40er Jahren“, schrieb er in einer biographischen Notiz. Es war ein Beten gegen die Bombenangst. Als er 16 war, betete er für die Ungarn, die hilflos gegen sowjetischen Panzer anrannten. Tief geprägt durch Erziehung und lutheranische Volksmission blieb ihm Jesus Bezugspunkt seines Denkens. Als Dutschke sich 1963 den Spontis der „Subversiven Aktion“ anschloss, notierte er zum Karfreitag: „In diesen Stunden verschied der Welt grösster Revolutionär – Jesus Christus“, als Opfer der „Konterrevolution, die ihn ans Kreuz schlug“.

Prompte Abstrafung  Mit seiner DDR-Vergangenheit hatte Dutschke den Genossen vom SDS eine entscheidende politische Erfahrung voraus, denn er hatte Marx schon in der Schule gebüffelt und am eigenen Leib gespürt, dass der in der DDR gelehrte Marxismus nicht das Beste für den Menschen wollte, sondern nur bedingungslosen Gehorsam gegenüber den vom Politbüro vorgegebenen ideologischen Volten. In der Schule hatte er erlebt, wie eben noch gültige Partei-Wahrheiten plötzlich als Feind-Propaganda galten, denn nach dem Ungarn-Aufstand forderte die Schulleitung, die von der SED bislang vorgetragenen Bekenntnisse zur deutschen Einheit sofort zu vergessen. Da ergriff Dutschke das Wort. Seinem damaligen Berufsziel – Sportreporter im Radio – folgend, hatte er sich in Heimarbeit bereits deklamierend erprobt und fand nun Gelegenheit, sich öffentlich als Rhetor zu präsentieren. Er nutzte die Bühne, um vor dem Lehrerkollegium die Widersprüche der SED-Politik Satz für Satz anzuprangern.

Die Abstrafung folgte prompt. Wegen „ungesellschaftlichen Verhaltens“ wurde seine Abi-Note herabgestuft, und da er sich ebenso scharfzüngig unter Berufung auf seinen christlichen Pazifismus gegen den Dienst in der Kasernierten Volkspolizei, der Vorgängerin der Nationalen Volksarmee, zu wehren verstand, wurde er nicht zum Studium zugelassen. Dutschke ging in den Westen. Und blieb auch dort Wahrheitssucher. Die Wahrheit über den real existierenden Sozialismus hatte er schon entdeckt: Ulbricht, Stalin und die Sowjetunion waren für ihn nur noch ein „fauler Fleck“ in der Geschichte des Sozialismus.

Koalition der Umarmung  Im Westen kam Dutschke in eine Gesellschaft, die mit dem Weiter-so der Adenauer-Zeit haderte, denn die alles umarmende Große Koalition hatte die SPD als vorwärtstreibende, gesellschaftsverändernde Kraft gelähmt. In der Debatte über die Notstandsgesetze wähnten sich Linke und Liberale im Klammergriff eines die Bürgerrechte missachtenden autoritären Staats. Und in Vietnam tobte ein Krieg der USA gegen den kommunistischen Vietcong. An überfüllten Hochschulen verharrten die Ordinarien ohne Rücksicht auf die Ausbildungsinteressen der Studenten im abgezirkelten Olymp der Humboldtschen Universität, gottgleich und unangreifbar, vor allem abhold jeder Veränderung.

Diese Gemengelage war die Basis für die Außerparlamentarische Opposition. Die APO war eine Sammlungsbewegung, geführt vom links-liberalen Bildungsbürgertum und publizistisch begleitet von Medien, die verwoben mit diesem Milieu von demselben Unbehagen ergriffen waren. Die Studenten waren lautstark dabei. Im ummauerten West-Berlin, wo der Antikommunismus der Bevölkerung alles, was irgendwie Anti war – antibürgerlich, antiautoritär, antikonservativ - ohnehin mit dem Feind-Label „kommunistisch“ versah und wo die Universitäten allen eine Heimstatt boten, die vor der bleiernen Langeweile der Provinz und der Bundeswehr flüchteten, zündete der außerparlamentarische Funke schneller und greller als anderswo. Wer hier demonstrierte – an der Uni und auf den Straßen – fand schnell Beachtung.

Bald war eine Reise nach Berlin für Journalisten ein Erlebnisgutschein, der sich in satte Revolutionsreportagen umtauschen ließ. Kein Wunder, dass viele – so Brendan Simms in seinem Bestseller „Kampf um die Vorherrschaft – Eine deutsche Geschichte Europas“ – in der deutschen Hauptstadt den „archimedischen Punkt im Zentrum der Welt“ entdeckten. Hier träumte Dutschke gemeinsam mit dem französischen Revolutionstheoretiker Regis Debray von einer „bewaffneten Avantgarde des Volkes“. In den Metropolen sollte die Stadtguerilla „die objektiven Bedingungen für die Revolution durch subjektive Tätigkeit schaffen“. Ein Satz, so kurz wie konfus. Eine Weltrevolution im Sauseschritt, ausgehend von einer Straßenecke am Kurfürstendamm, wo Dutschke im SDS-Hauptquartier das Modell einer Räterepublik entwarf: ohne entfremdete Arbeit, dafür Volksküchen für jedermann.

Vieles war durcheinander geraten: Notstandsgesetze und Dritte Welt, revolutionäre Wünsche und bräsige Wirklichkeit, Strassenprotest und Waffengang. Aber dieser Wirrwarr in den Köpfen war dem Kokon geschuldet, in dem sich die selbstgefällige Elite des SDS eingesponnen hatte, in ihren verrauchten Ideologiedebatten und einer Sicht auf den Rest der Welt durch tiefrote Brillengläser. Zu Beginn seines Studiums hatte Dutschke noch geschwärmt über das, was sich ihm bot: „Geschichte, Politik, Philosophie, Wirtschaft ... Die ganze Menschheitsgeschichte rollt ab.“ Doch in den sieben Jahren vom Studienbeginn 1961 bis zum Attentat 1968 verengte sich seine Sicht auf das Kapitel von der russischen Oktoberrevolution bis zu den Befreiungskämpfen der kolonisierten Völker. Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Rosa Luxemburg, Mao und die Geschichte der blutigen kommunistischen Grabenkämpfe standen auf dem Lektüreplan, den er über seinem Bett an die Wand gepinnt hatte. Er schlug kein Buch auf ohne seinen vielfarbigen Kugelschreiber, mit dem er zitierenswerte Sätze markierte.

Dutschke war ein Nerd der Revolution, der je nach aktueller Lektüre die „Massen“ auf seine Einbahnstraße umlenken wollte und der erst, als die Kugel des Attentäters ihn getroffen hatte, in der Rekonvaleszenz bekannte: „Ich habe Fehler gemacht. Ich bin einfach noch zu jung, um Politiker zu werden.“ Doch auch nachdem ihm diese Einsicht gekommen war, blieb er seinem persönlichen Kernwiderspruch treu: Mal warnte er vor der Gewalt, mal rief er sie herbei. Vielleicht war es ein Glück für ihn, dass die Zeit- und Lebensumstände ihn davor bewahrten, mit seinem Hang zum Unbedingten den Weg von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof zu gehen. Auch die Mitbegründerinnen der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) waren christlich-pazifistisch erzogen und schließlich in einer Mörderbande gelandet.

Die Gewalt im Umfeld des SDS begann mit „direkten Aktionen“ wie dem (mit Backpulver verübten) „Pudding-Attentat“ auf den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey durch Dutschkes Freunde von der „Subversiven Aktion“. Danach brannte ein Kaufhaus. Dutschke ließ zwar die Dynamitstangen, die ihm der linksradikale italienische Verleger Feltrinelli in den Kinderwagen seines Sohnes Hosea-Che verbuddelt hatte, klammheimlich verschwinden, aber öffentlich hielt er flammende Reden auf die „‚Propaganda der Schüsse‘ in der ‚Dritten Welt‘“ und die „‚Propaganda der Tat‘ in den Metropolen“ und schwärmte von der „sinnlichen Erfahrung der organisierten Einzelkämpfers“ gegen die „staatliche Exekutivgewalt“. Er tat das mit solcher Leidenschaft, dass Bommi Baumann, der Bombenbauer der terroristischen „Bewegung

2. Juni“, sich sicher war: „Bei Rudi hast du sofort gemerkt, der geht genauso wie du durchs Feuer. Der verkrümelt sich nicht, wenn es dicke kommt.“

Tat er aber doch. Weiter als bis zum Abräumen von Polizeigittern brachte Dutschke es nicht. Letztlich war seine Rede revolutionärer Bluff, aber doch so aufwieglerisch, dass Jürgen Habermas darin den Keim eines „linken Faschismus“ spürte. Zwar trieb Dutschke in seinen letzten Lebensjahren – so berichten Freunde – durchaus der Gedanke um, er könne mitschuldig sein an den Gewalttaten der RAF, aber immer wieder siegte der verbale Reflex über die Reflexion. Am Grab des RAF-Terroristen Holger Meins tönte er 1974 mit erhobener Faust: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Und drei Jahre später rief er dem von der RAF ermordeten Jürgen Ponto das verächtliche Wort vom „Hohen Bankspekulanten“ nach; kein Wort der Betroffenheit, kein Urteil über die Täter.

Wie konnte ein junger Mann mit diesem erratischen Weltbild, dessen Haltung zur Gewalt höchst ambivalent war, zum gesuchten Gesprächspartner von liberalen Politikern und Journalisten wie Ralph Dahrendorf, Rudolf Augstein und Günter Gaus werden? Es war nicht nur das Ungestüm seiner Reden, es war die Unbedingtheit, mit der er den Mehltau bürgerlichen Selbstzufriedenheit hinwegfegen wollte; es war der Schauder, der über den Rücken lief, wenn da einer den revolutionären Feueralarm ausrief, während alle anderen im Fernsehen Serien wie die „Familie Schölermann“ guckten.

Dazu kam, dass Dutschke im persönlichen Gespräch gewinnend war, „entspannt, aufmerksam, freundlich, bedacht, nicht zu kränken“, wie der „Zeit“-Verleger Gerd Bucerius nach einer Begegnung aufschrieb. Augstein fand, Dutschke sei nicht gerade ein „Geistesheros“; er hielt ihn wohl eher für etwas drollig, überwies ihm aber nach dem Attentat eine monatliche Summe für den Unterhalt.

Vor seinem tragischen Tod fand Dutschke mit dem Entstehen der Umweltbewegung doch noch einen Weg in die politische Realität. Dutschkes Milieu aus den Sechzigern hatte sich in diverse kommunistische Mini-Fraktionen gespalten, andere Alt-Genossen waren auf dem Weg durch die Institutionen. Dutschke reiste nun durch die Republik, aber mit dem verblassten „Mythos des ‚auferstandenen Propheten‘“, so sein inzwischen zur Rechten übergelaufener Ex-Kampfgefährte Bernd Rabehl, konnte er keine Allianzen mehr schmieden. Die Hoffnung auf die Arbeiterklasse hatte Dutschke aufgegeben. Und er hatte erkannt, dass die Befreiungsbewegungen, sein anderes Idol, einmal an der Macht sich eher korrumpierten, als eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

Trudelnder Kompass  Er wurde grün und fand seine „neue Klasse“ (Dutschke) bei den Kämpfern gegen die „zunehmende Atomisierung und Chemisierung“ der Welt. Wieder einmal war sein Kompass ins Trudeln geraten – wie einst bei der Wende vom Pazifismus zur Revolution. Jetzt zählten zu seinen „Klassen“-Genossen der deutschtümelnde Öko-Bauer Baldur Springmann, der CDU-Dissident Herbert Gruhl und der rechtsradikale August Haußleiter, die sich damals noch bei den Grünen tummelten. Am 10. Januar 1980 sollte Dutschke als Delegierter aus Bremen zum Gründungskongress der neuen Partei reisen. Am Heiligen Abend davor fand er den Tod.

„Gott hat es gut mit Rudi gemeint“, predigte der Theologe Helmut Gollwitzer an Dutschkes Grab. Er hatte Ruhe gefunden. Den christlichen Weg, auf dem Dutschke begann, verfehlte er im Gestrüpp der Weltrettungsideologien. Ein paar widerständige protestantische Theologen wie Bonhoeffer hätten dem Suchenden einen anderen Weg weisen können. Aber sie fehlten auf dem Lektürezettel in seiner Studentenbude. Da standen nur Marx und Genossen. Doch Gott zählt nicht die ungelesenen Bücher, „sondern blickt auf die Narben des Lebens“ (Bonhoeffer). Und davon hatte Rudi Dutschke mehr als genug.

Der Autor war „Spiegel“-Redakteur, Moderator im „heute journal“, Fernseh-Chefredakteur des Süddeutschen Rundfunks und Gründungsintendant des Deutschlandradios.