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DDR : Das Einheits-Plebiszit

Vor 25 Jahren krönte die freie Volkskammerwahl die friedliche Revolution

23.03.2015
2023-08-30T12:27:58.7200Z
6 Min

Am 7. Dezember 1989 kam die Bürgerbewegung in der DDR ihrem Ziel, die kommunistische Staatspartei zu entmachten, einen entscheidenden Schritt näher. An diesem Tag trafen in Ost-Berlin erstmals Vertreter der SED, der Blockparteien und der Opposition zusammen. Der nach polnischem Vorbild gebildete Zentrale Runde Tisch verstand sich nicht als Ersatzparlament, wohl aber als Kontroll- und Ratgeberorgan gegenüber Volkskammer und Regierung. Und gleich in der ersten Sitzung legte sich das Gremium auf die erste freie Volkskammerwahl fest. Als Wahltermin wurde der 6. Mai 1990 ins Auge gefasst.

Die Abhaltung freier Wahlen war seit langem eine zentrale Forderung der Bürgerrechtsbewegung. Sie wurde auch von führenden Politikern der Bundesrepublik aufgegriffen. So machte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) am 8. November 1989, einen Tag vor dem Mauerfall, vor dem Bundestag künftige Hilfen von dem Verlangen abhängig: „Die SED muss auf ihr Machtmonopol verzichten, muss unabhängige Parteien zulassen und freie Wahlen verbindlich zusichern.“ Tatsächlich hob die Volkskammer am 1. Dezember den in der DDR-Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED auf. Ministerpräsident Hans Modrow (SED) kündigte in seiner Regierungserklärung ein neues Wahlgesetz an, einen Wahltermin nannte er jedoch nicht.

Manchen am Runden Tisch erschien der für Mai angesetzte Wahltermin zu früh. Sie befürchteten, in den wenigen Wochen nicht die nötige Infrastruktur aufbauen zu können, um beim Urnengang erfolgreich zu sein. Die meisten neuen Parteien und Vereinigungen hatten weder Büros noch Apparate mit ausreichenden Kommunikationsmitteln. Zugleich spitzte sich jedoch die wirtschaftliche Lage zu, die Staatsautorität zerfiel, und die Ausreisewelle hielt unvermindert an. Immer mehr Teilnehmer des Runden Tisches fragten sich, ob die DDR am geplanten Wahltag 6. Mai überhaupt noch existieren würde.

Flucht nach vorn

In dieser Situation trat Modrow die Flucht nach vorn an. Er beschloss, den Runden Tisch zum Mitregenten zu machen, und holte acht Vertreter der Opposition als Minister ohne Geschäftsbereich in seine „Regierung der nationalen Verantwortung“. Anders als bisher strebte er nun einen möglichst frühen Wahltermin an. Ihm war klar geworden, dass – je länger sich die Krise hinzog – die in PDS umbenannte SED von den Bürgern an der Wahlurne dafür die Quittung bekommen würde. Auch die Sozialdemokraten, die sich nach Meinungsumfragen schon als Sieger der Wahl wähnten, plädierten für einen früheren Termin. Die meisten Bürgerbewegten hingegen wollten am 6. Mai festhalten, setzten sich damit aber nicht durch. Am 28. Januar 1990 entschied der Runde Tisch, die Volkskammerwahl auf den 18. März vorzuziehen.

Kaum hatte die Volkskammer den Vorschlag gebilligt, stürzten sich die DDR-Parteien und neuen Vereinigungen in den Wahlkampf. Westdeutsche Politiker mischten von Anfang an mit. Die Sozialdemokratische Partei, die sich im Herbst 1989 ohne Mitwirkung der West-SPD gegründet hatte, wurde von dieser offiziell als „Schwesterpartei“ anerkannt und unterstützt. CDU-Chef Kohl brachte die von Lothar de Maizière geführten Christdemokraten Ost dazu, sich mit der CSU-nahen „Deutschen Sozialen Union“ (DSU) und dem aus der Oppositionsbewegung kommenden „Demokratischen Aufbruch“ (DA) zum Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ zusammenzuschließen. Für die Sammlung des liberalen Lagers unter dem Namen „Bund Freier Demokraten“ stand die West-FDP Pate. Die PDS sowie die Bürgerplattform „Bündnis 90“, gegründet von Mitgliedern des „Neues Forums“, von „Demokratie Jetzt“ und der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“, mussten den Wahlkampf ohne westliche Hilfe bestreiten. Letztere kooperierte erst nach der Wahl mit den Grünen.

Zentrales Wahlkampfthema war die deutsche Einheit und der Weg dorthin. Aus der Parole hunderttausender Demonstranten „Wir sind das Volk“ war längst „Wir sind ein Volk“ geworden. Der Ruf nach dem Zusammenschluss mit der Bundesrepublik war nicht mehr zu überhören. Die „Allianz für Deutschland“ trug dieser Stimmung Rechnung und sprach sich für die möglichst schnelle Einführung der

D-Mark im Osten und für einen Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes aus. Auch die SPD und die Liberalen bekannten sich zur Einheit der Nation. „Bündnis 90“ plädierte hingegen für den längeren Weg über eine neue Verfassung, an dessen Ende die Vereinigung stehen könne. Die PDS beharrte auf der Souveränität der DDR und lehnte eine Wiedervereinigung als Angliederung an die Bundesrepublik ab.

Ungeachtet der Forderung des Rundes

Tisches, westdeutsche Parteien sollten sich aus dem DDR-Wahlkampf heraushalten, schickten diese Geld, Material und Berater und überschwemmten das Land mit Flugblättern und Plakaten. Spitzenpolitiker wie Helmut Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher, via Fernsehen den DDR-Bürgern besser bekannt als die führenden Bürgerrechtler, zogen bei ihren Auftritten im Osten Massen von Menschen an.

Die Wirkung blieb nicht aus. Die Wahl am 18. März, an der mehr als 93 Prozent der Berechtigten teilnahmen, wurde zum Plebiszit für eine schnelle deutsche Einigung. Mehr als drei Viertel der Stimmen bekamen Parteien, die sich dafür ausgesprochen hatten. Klarer Sieger mit 48 Prozent war die „Allianz für Deutschland“, gefolgt von der SPD mit knapp 22 Prozent und der PDS mit 16,3 Prozent. Das „Bündnis 90“, dessen Mitglieder die Veränderungen in der DDR initiiert hatten, war mit

2,9 Prozent der große Verlierer.

Die neue, demokratische gewählte Koalitionsregierung aus CDU, DSU, DA, SPD und Liberalen mit Ministerpräsident de Maizière an der Spitze stand vor einer ungemein schwierigen Aufgabe. Sie sollte die DDR abwickeln, ihren Beitrag zur Vereinigung leisten und zugleich bei den Verhandlungen mit Bonn die Interessen ihrer Bürger wahren. Unter dem Eindruck der von vielen DDR-Bürgern drohend vorgebrachten Parole „Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr“ widmeten sich die Verhandlungspartner zunächst den Themen Geld und Sozialleistungen. Schon am 18. Mai konnten die Finanzminister beider Staaten in Bonn den Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unterzeichnen. Er trat am 1. Juli in Kraft und brachte den DDR-Bürgern die heiß ersehnte D-Mark. Mehr Zeit benötigte der Einigungsvertrag, der auf mehr als 900 Seiten den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und die Angleichung des DDR-Rechts an die bundesdeutsche Ordnung regelte. Am 31. August unterzeichneten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Staatssekretär Günter Krause (beide CDU) das Abkommen.

Die Abgeordneten der frei gewählten Volkskammer und die Mitglieder der von ihr gestützten Regierung sind im Westen häufig politische Laienspieler genannt worden – was ihnen nicht gerecht wird. Tatsächlich haben Parlament und Exekutive, wie der Historiker Gerhard Ritter feststellte, „ein großes Arbeitsprogramm unter gewaltigem Zeitdruck mit insgesamt erstaunlicher Kompetenz bewältigt“. In nur wenigen Monaten verabschiedete die Volkskammer 164 Gesetze und 93 Resolutionen. Sie galt nicht nur als ein besonders fleißiges, sondern auch als zu Spontanaktionen neigendes Parlament. Am 17. Juni etwa beantragte die DSU-Fraktion, ohne die Konsequenzen zu bedenken, den sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Parlamentsvizepräsident Reinhard Höppner (SPD) bewahrte das Haus vor einem Eklat, indem er erfolgreich vorschlug, den Antrag an die Ausschüsse zu überweisen. Am 22. August stand der Beitritt erneut auf der Tagesordnung. Nach leidenschaftlicher Debatte beschloss die Volkskammer weit nach Mitternacht mit 363 Ja- gegen 62 Nein-Stimmen bei sieben Enthaltungen den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mit Wirkung vom 3. Oktober 1990.

Volle Souveränität

Mit diesem Beschluss und dem von Bundestag und Volkskammer am 20. September verabschiedeten Einigungsvertrag war die rechtliche Grundlage für die Zusammenführung beider deutscher Staaten geschaffen. Hinzukommen musste die außenpolitische Absicherung. Denn für die Vereinigung war die Zustimmung der Siegermächte notwendig. Seit Anfang Mai waren Bonn und Ost-Berlin in den „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ bemüht, Bedingungen auszuhandeln, unter denen die Vereinigung für alle akzeptabel wäre. Am 12. September wurde der Vertrag „über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ in Moskau unterzeichnet. Am 1. Oktober verzichteten die Siegermächte auf ihre bisherigen Rechte und Verantwortlichkeiten. Damit erhielt das vereinte Deutschland die volle innen- wie außenpolitische Souveränität gegen die Zusage, keinerlei Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten zu erheben, seine Streitkräfte auf 370.000 Mann zu verringern und auf ABC-Waffen zu verzichten. Einen Tag, nachdem sich die Volkskammer aufgelöst hatte, feierte Deutschland am 3. Oktober erstmals den Tag der Einheit. (Die Volkskammersitzungen im Internet: www.bundestag.de)

Der Autor war 1990 DDR-Korrespondent des „Stern“.