In seiner tiefen Betroffenheit war sich der Bundestag einig, als er vergangenen Mittwoch über die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer in einer Vereinbarten Debatte diskutierte –, nicht aber darüber, welche Konsequenzen der EU-Gipfel am nächsten Tag ziehen sollte. Als zu Beginn Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) die Abgeordneten, die sich zu einer Gedenkminute erhoben hatten, aufforderte, „alles in unserer Macht stehende zu tun, diese tragischen Ereignisse nicht wiederholen zu lassen“, da war es mucksmäuschenstill im Plenarsaal. Und auch danach verlief die Debatte fast ohne Zwischenrufe und laute Töne, und das trotz gravierender Vorwürfe aus der Opposition in Richtung Regierung.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) berichtete von mehreren Begegnungen mit Flüchtlingen und deren bewegenden Berichten. Dann aber erzählte er auch von einer Frau, die mit wenigen arabischen Worten gesagt habe, sie stamme aus Syrien, die ein Dolmetscher dann aber als Serbin identifiziert habe. Das Thema Asyl, Flucht und Migration sei sehr vielschichtig, folgerte de Maizière. „Wir brauchen Emotion und kühlen Verstand.“ Mit Blick auf die Herkunftsländer fragte er: „Was sagen eigentlich die afrikanischen Führer dazu, dass ihnen die Mittelschicht davonläuft?“ De Maizière verteidigte das europäische Grenzschutzprogramm im Mittelmeer „Triton“ gegen Kritik. Es habe nicht weniger Mittel zur Flüchtlingsrettung zur Verfügung als das eingestellte italienische Vorgängerprogramm „Mare Nostrum“. Allerdings müsse nun die Seenotrettung dringend verbessert werden, „auch mit deutscher Beteiligung“. Die EU-Kommission habe eine Verdoppelung der Mittel vorgeschlagen, „es kann auch das Dreifache sein“. De Maizière forderte zudem den Kampf gegen Schlepperbanden und eine Beteiligung aller EU-Staaten an der Aufnahme der Flüchtlinge.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) betonte die Notwendigkeit, die Herkunfts- und Transitländer zu stabilisieren, insbesondere Libyen. Dass das Mühe, Zeit und Aufwand kosten werde, gehöre „zum Realismus, mit dem ich die gegenwärtige Situation beschreibe“.
Für die Fraktion Die Linke nannte Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau die Ereignisse im Mittelmeer nicht nur „eine menschliche Katastrophe“, sondern auch „ein politisches Desaster“. „Versagt hat die EU-Flüchtlingspolitik, also auch die deutsche. Sie ist auf Abwehr ausgerichtet statt auf Lösung.“ Pau sagte, wer weniger Flüchtlinge wolle, müsse eine globale Entwicklung fordern, die Gerechtigkeit schaffe und Frieden gebiete. Ihre Fraktionskollegin Ulla Jelpke hielt dem Bundesinnenminister vor: „An den 900 Menschen, die vor wenigen Tagen ertrunken sind, tragen Sie eine Mitschuld, genauso wie alle anderen Innenminister, die legale Zugangswege bisher verhindert haben.“ Zu den geplanten militärischen Maßnahmen gegen Schlepperbanden sagte Jelpke: „Das wird ein Krieg werden gegen Flüchtlinge“. Statt Kriegsschiffen solle Europa Fähren an die Nordküsten Afrikas schicken.
Die Toten im Mittelmeer seien „auch unsere Toten“, sagte Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Nicht das Mittelmeer sei grausam, sondern „die Abschottungspolitik, die wir seit Jahren betreiben“. Wer auf sicherem, legalem Weg nach Europa kommen könne, brauche keine Schlepper. „Das war mit Ansage. Das war mit Wissen“, sagte Göring-Eckardt, und an de Maizière gewandt: „Das sind auch Ihre Toten!“ Hans-Peter Friedrich (CDU) und Rüdiger Veit (SPD) verwahrten sich gegen die Zuweisung persönlicher Verantwortung an de Maizière durch Göring-Eckhardt und Jelpke. Veit lobte aber den ansonsten „angemessenen Ton der Debatte“.
Für einen wirksameren Einsatz von Entwicklungshilfe zur Bekämpfung von Fluchtursachen plädierte Andrea Lindholz (CSU). Die EU-Staaten leisteten mehr als die Hälfte der weltweiten Entwicklungshilfe. Diese Mittel gelte es auf europäischer Ebene besser zu koordinieren. Lars Castellucci (SPD) hob hervor, wie viel Verantwortung Deutschland und Europa in der Welt übernähmen. „Aber vor Lampedusa haben wir versagt. Die Toten im Mittelmeer sind auch meine Toten.“
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