Die Diagnose ist von den politisch Verantwortlichen seit langem gestellt: Europa leidet an einem schweren Mangel: dem Mangel an Investitionen. Die attestierten Werte sind schlecht: Laut Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen in Brüssel (DG EGFIN) blieben die Investitionen im zweiten Quartal 2014 15 Prozent und damit 430 Milliarden Euro unter dem Stand von 2007. Berechnungen der Europäischen Investitionsbank (EIB) zufolge müsste die EU jährlich 600 Milliarden Euro investieren, um den durch die schwere Finanzkrise verursachten Rückstand in der europäischen Wettbewerbsfähigkeit bis zum Jahr 2020 aufzuholen.
Die EU-Kommission unter Führung von Jean Claude-Juncker hat dem Patienten deshalb bereits im Oktober 2014 eine Arznei verordnet: den Fonds für strategische Investitionen (EFSI), kurz „Juncker-Fonds“ genannt. Der Therapieplan sieht vor, dass der Fonds mit einem Eigenkapital in Höhe von 21 Milliarden Euro ausgestattet werden soll – 16 Milliarden aus dem EU-Haushalt und fünf Milliarden als Zuschüsse von der EIB –, um so zwischen 2015 und 2017 europäische Investitionen in Höhe von mindestens 315 Milliarden Euro anzustoßen. Das Ganze erinnert den Laien ein wenig an Homöopathie: Die wirksamen Grundsubstanzen werden in den Naturarzneien so stark verdünnt, dass sie in verabreichten Kügelchen kaum noch nachweisbar sind. Dennoch sollen sie, nach Ansicht von Alternativmedizinern, Krankheiten heilen oder zumindest lindern. Auch die EU-Mittel im Juncker-Plan sind mit 21 Milliarden Euro eher gering. Doch sollen diese Milliarden eine starke Hebelwirkung entfalten und sich am Ende um das 15-fache vermehren. Wie das? Die Kommission meint, die europäischen Unternehmen und Finanzinstitute hätten inzwischen zwar wieder genug Geld, scheuten aber das hohe Risiko, in komplexe Projekte und Zukunftstechnologien, wie Erneuerbare Energien, Energienetze und Verkehrsinfrastruktur, zu investieren. Von einem „Marktversagen“ ist die Rede. Der Fonds soll das auflösen, in dem es die Risiken teilweise übernimmt.
Gefahr des Placebos Die Frage ist nun, ob das so wirklich funktionieren wird oder ob Junckers Pille am Ende nur ein Placebo ist. Kann der Fonds tatsächlich neue Investitionen anschieben und neue Arbeitsplätze schaffen oder werden mit seiner Hilfe doch nur Projekte angestoßen, die a) ohnehin gemacht worden oder b) nie realisiert worden wären, weil sie nicht rentabel sind? Vor dieser ungewollten Nebenwirkung und deren Folgen für die europäischen Steuerzahler warnt bereits der Europäische Gerichtshof.
Auch die Abgeordneten treiben diese Fragen um. In einer öffentlichen Anhörung im Europaausschuss standen ihnen in der vergangenen Woche sechs Sachverständige knapp zwei Stunden lang Rede und Antwort. Ihr Fazit: Ja, der Fonds kann wirken, aber nur unter bestimmten Bedingungen.
So forderte Professor Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln, als ein Schlüsselkriterium für den Fonds das Prinzip der Zusätzlichkeit zu verankern. Nur so könne sichergestellt werden, dass Investitionsprojekte, die auch ohne staatliche Förderung realisiert würden, sowie Projekte, die aus anderen EU- oder Förderbanktöpfen unterstützt werden könnten, unangetastet bleiben. Zudem sollten nach Auffassung Hüthers vor allem Investitionsprojekte ausgewählt werden, die den Ausbau transeuropäischer Infrastruktur forcieren. Dies gelte insbesondere für den digitalen Binnenmarkt und die europäischen Energienetze.
Luca Bergamaschi von der unabhängigen gemeinnützigen Organisation „E3G – Third Generation Environmentalism“ sieht im Juncker-Fonds eine „echte Chance“, Investitionen in Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Stromnetze und andere nachhaltige Technologien anzuregen und so eine klimafreundliche Energieunion in Europa zu realisieren. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass der EFSI nur Projekte fördere, die im Einklang mit den europäischen Klima- und Energiezielen stünden und damit eine Grundlage für nachhaltigen Wohlstand bildeten. „Industriezweige, denen es an Zukunftsfähigkeit mangelt und die die ‚Kohlestoffblase‘ weiter aufblähen, sollten als nicht förderungswürdig betrachtet werden“, schreibt die Organisation in ihrer schriftlichen Stellungnahme.
Laut Regina Hodits vom Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften – German Private Equity and Venture Capital Association e.V. gibt es in Europa eine große Finanzierungslücke im Bereich der Innovationsfinanzierung. Sie zu schließen sei „dringend notwendig“. Hodits nannte ein Beispiel: Zwar würden in Deutschland und in Europa mehr Patente und wissenschaftliche Publikationen in allen Fachbereichen geschrieben als in den USA. Aber es stünde nur ein Zehntel des Kapitals zur Umsetzung zur Verfügung. Ursache sei eine andere Risikoeinschätzung, urteilte Hodits. So würden so genannte „Equity Investments“ und Investitionen in Aktien in Europa immer noch als sehr risikobehaftet angesehen. Garantieinstrumente wie der EFSI könnten daher helfen, Investitionen in Innovationen zu mobilisieren. Allerdings müssten die Instrumente unbürokratisch anwendbar sein.
Auf die große Investitionslücke in Europa wies auch Sebastian Gechert (Hans-Böckler-Stiftung, Institut für Makrookönomie und Konjunkturforschung) hin. Er nannte weitere, alarmierende Zahlen: Die öffentlichen Nettoinvestitionen im Euroraum seien seit der Krise um zirka ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes gesunken, die privaten Investitionen um zirka zwei bis drei Prozent. Das bedeute in der Summe ein Volumen von 300 Milliarden Euro im Vergleich zum Vorkrisenniveau – und das jährlich. Gechert gab daher zu Bedenken, dass der EFSI mit einem geplanten Volumen von 315 Milliarden Euro in drei Jahren „recht klein“ sei. Zudem sei gar nicht davon auszugehen, dass diese Milliarden durch die von der Kommission erhoffte Hebelwirkung tatsächlich erreicht werden. Grund sei der geringe Eigenkapitalanteil. „Der Hebel von 1:15 an nachweisbaren und zusätzlichen privaten Investitionen ist aus meiner Sicht unrealistisch“, erklärte Gechert. Der Grundstock an öffentlichen Mitteln müsste daher schon im Vorhinein deutlich erhöht werden, etwa durch eine Beteiligung der Nationalstaaten an dem Fonds.
Dieser Forderung schloss sich auch Gunnar Münt von der EIB in Luxemburg an. Eine Beteiligung der EU-Mitgliedstaaten sei „sehr sinnvoll“ angesichts der Begrenzung des Fondsvolumens. „Mehr hilft eben auch mehr“, betonte Münt. Deutschland hat eine direkte Beteiligung allerdings kategorisch ausgeschlossen. Es will sich jedoch über die KfW-Bankengruppe mit acht Milliarden Euro beteiligen. Staaten wie Frankreich, Spanien und Luxemburg wollen ebenfalls Mittel über ihre jeweiligen Förderbanken bereitstellen.
Anders als Gechert geht Münt grundsätzlich geht davon aus, dass die EFSI-Mittel von 21 Milliarden Euro für Risikofinanzierungen ausreichen werden, um die erhofften zusätzlichen Investitionen zu ermöglichen. Durch die Übernahme von Ausfallrisiken durch die EIB werde die EU viele risikoreichere Investitionsprojekte auf den Weg bringen, zeigte sich der EIB-Direktor überzeugt.
Erfolgsgeheimnis Lutz Christian-Funke von der KfW-Bankengruppe sieht das genauso. Die 21 Milliarden könne Europa in den kommenden zwei Jahren auf jeden Fall sinnvoll einsetzen, urteilte er. Zudem lobte er, dass der Juncker-Plan nicht auf „verlorene Zuschüsse“ setze, sondern auf Garantien und Kredite. „Da sehen Sie wenigstens Ihr Geld wieder, ansonsten ist es nämlich weg“, sagte Funke, der dieses Prinzip auch als das „Erfolgsgeheimnis der KfW“ bezeichnete. Seine Erfahrung: Die Investoren gingen viel verantwortungsvoller mit ihrem Geld um, wenn sie es zurückzahlen müssten.
Ob Junckers Therapie den europäischen Patienten wieder aufpäppeln kann, wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen. Voraussichtlich Mitte Juni soll der Fonds seine Arbeit aufnehmen. EIB-Mitarbeiter sind bereits intensiv damit beschäftigt, die rund 2.000 von den 28-EU-Staaten eingereichten Investitionsprojekte zu prüfen und auszuwählen.
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