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GEWERKSCHAFTEN : Der Zwang zur Einheit

Die kleinen Berufsverbände fürchten um ihre Existenz - und kämpfen

26.05.2015
2023-11-10T16:39:06.3600Z
5 Min

Zuletzt waren es die angestellten Lehrer, die streikten. Jetzt sind es die Erzieher, die Kindergärten lahm legen. Und auch die Postbediensteten streiken wieder einmal. Wer kann da noch einen Streik der Lokführer gebrauchen? Deutschland - einig Streikland? Nicht ohne Grund spitzen sich die Konflikte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur Zeit zu. Denn es geht - natürlich - ums Geld. Aber noch mehr geht es um eine Neuordnung der deutschen Tariflandschaft insgesamt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Welchen Einfluss dürfen kleine, berufsorientierte Spartengewerkschaften künftig haben? Droht ihnen das Aus angesichts der Verabschiedung des umstrittenen Tarifeinheitsgesetzes im Bundestag?

Zwar haben sich die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) und die Bahn am vergangenen Donnerstag überraschend auf ein Schlichtungsverfahren geeinigt. Aber was zunächst von der GDL als Sieg verkauft wurde, bedeutet nicht, dass die Kuh damit vom Eis ist. Für GDL-Chef Claus Weselsky steht fest: Die GDL führt - ausgerechnet mit der mehrheitlich im Besitz des Bundes befindlichen Bahn - einen Stellvertreterkampf, in dem es um die Zukunft des Streikrechts in Deutschland insgesamt geht. Wer darf streiken - nur die Big Player vom DGB oder auch die kleinen Gewerkschaften? Weselsky: "Es geht uns um die Frage: Wie halten wir es mit den Freiheitsrechten von Minderheiten?"

Wegweisendes Urteil  Er nimmt dabei Bezug auf eine wegweisende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 23. Juni 2010. Damals kippten die Richter den alten Grundsatz "Tarifeinheit geht vor Tarifvielfalt" und urteilten, es gebe künftig keinen Zwang für stets einheitliche Tarifregelungen in Betrieben. Das heißt nichts anderes, als dass seitdem mehrere Gewerkschaften in einem Unternehmen unterschiedliche Tarifverträge für eine Berufsgruppe abschließen dürfen und gut organisierte Berufsgenossenschaften Überbietungstarifverträge erkämpfen können. Denn seit dem Urteil können speziellere, vielleicht arbeitgeberfreundlichere Tarifverträge, nicht mehr die Tarifverträge anderer Gewerkschaften verdrängen.

Dagegen hat die Bundesregierung nun das Tarifeinheitsgesetz auf den Weg gebracht, das in letzter Konsequenz nur noch der größten Gewerkschaft in einem Betrieb den Streik erlaubt. "Um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken, wollen wir den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich festschreiben", heißt es dazu bereits im Koalitionspapier von Schwarz-Rot. Für die mitgliederschwachen Arbeitnehmervertretungen würde dies das Aus bedeuten, denn eine Spartengewerkschaft, die keine eigenen Tarifverhandlungen führen und ein Ergebnis nicht per Streik erzwingen kann, wird für ihre Mitglieder unattraktiv.

Für Weselsky ist deshalb das Tarifeinheitsgesetz ein Angriff auf die Koalitionsfreiheit. Die Große Koalition folge mit ihrem Vorhaben allein dem ,Tarifkartell' zwischen Arbeitgebern, die möglichst schwache Gewerkschaften in ihren Unternehmen haben wollten, und dem DGB, der die Konkurrenz klein halten wolle. "Allein die Initiative, dieses Gesetz zu schaffen, hat dazu geführt, dass die Arbeitgeber keine Lust mehr haben, mit Berufsgewerkschaften Tarifverträge abzuschließen. Und hier an der GDL wird ein Pilotprojekt gefahren," glaubt Weselsky.

Gesetz mit Sprengkraft  Deshalb hat sich der GDL-Chef den geballten Missmut von Bahnpendlern, Fernreisenden, eines großen Teils der Öffentlichkeit und der Politik zugezogen. Gleichzeitig kann er sich aber auch auf die Unterstützung der übrigen Spartengewerkschaften verlassen. "Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit darf durch Tarifkartelle nicht ausgehebelt werden", sagt etwa der Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke. "Der DGB will seine Konkurrenz bremsen und behindern, und die Arbeitgeber wollen möglichst bequeme Verhältnisse. Wir gehen zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Karlsruhe." Ähnlich äußert sich der Vize-Chef des "Deutschen Beamtenbundes" (DBB), Willi Russ: "Die Zimmer in Karlsruhe sind bereits gebucht." Und auch der Chef der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, beklagt lautstark: "Dieses Gesetz führt zu undemokratischen Einheitsgewerkschaften. Es besitzt große Sprengkraft, denn die Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern werden sich nicht wieder unter das Joch einer Einheitsgewerkschaft zwingen lassen. Dieses Gesetz stiftet großen Unfrieden statt die grundgesetzlich gewährleistete Tarifautonomie zu stärken."

Chaos nicht in Sicht  Und die hat für alle diejenigen, die Zug fahren, ins Krankenhaus oder zum Arzt müssen oder aber auf das Flugzeug angewiesen sind, einen hohen Preis. Spartengewerkschaften agieren - das geht aus einer aktuellen Studie des arbeitgebernahen "Instituts der deutschen Wirtschaft" (IW) in Köln hervor, deutlich aggressiver in Tarifverhandlungen als die großen Branchengewerkschaften wie Verdi oder die IG Metall, weil sie eng definierte Partikularinteressen vertreten und nicht mehrere verschiedene Berufsgruppen, für die man erst einmal Kompromisse finden muss, vertreten. Die Forscher haben die Tarifkonflikte in zwölf Branchen seit 2000 ausgewertet. Sowohl bei der Konfliktintensität als auch bei der Länge der Tarifauseinandersetzungen liegen die Spartengewerkschaften dabei deutlich vor den Branchengewerkschaften. Während die Branchengewerkschaften hierzulande durchschnittlich 4,2 Monate benötigten, um zu einem Ergebnis zu kommen, benötigten die Spartengewerkschaften mit 9,2 Monaten deutlich länger.

Verfällt Deutschlands Wirtschaft also bald dem Würgegriff gewerkschaftlicher Einzelinteressen, wie es die Befürworter des Gesetzes immer wieder beschwören? "Die Erwartung, dass bald Dutzende Splittergewerkschaften die Republik ins Chaos stürzen, ist völlig realitätsfern", meint jedoch der Tarifexperte Reinhard Bispinck von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Auch Hagen Lesch vom IW Köln ist skeptisch. "Zwar gibt es viele Berufsgruppen, die in Frage kämen", sagt er. Doch nur wenige davon hätten das Zeug zur Spartengewerkschaft. Denn um eine solche zu gründen, brauche es mehrere Voraussetzungen. Die Berufsgruppe müsste homogen genug sein. Zudem müsse sich eine neue Spartengewerkschaft überhaupt erst einmal organisieren wollen. Erst wenn sich ihr genug Berufstätige anschlössen, verfüge sie auch über die notwendige Durchschlagskraft. Und selbst wenn all diese Voraussetzungen erfüllt sind, sei auch die Macht von Spartengewerkschaften oft begrenzt. Nicht alle erzielten so überdurchschnittliche Ergebnisse wie die GdL 2007 oder Cockpit 2010. Die Flugbegleitergewerkschaft Ufo etwa schaffte 2009 nur einen bescheidenen

Abschluss. Und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund ließ Mitte Januar rasch

ihre Streikdrohungen ruhen und gab sich letztlich mit einer Lohnsteigerung

von rund drei Prozent zufrieden, obwohl sie ursprünglich das Doppelte gefordert hatte.

Flächentarife auf der Kippe  Doch die deutsche Tariflandschaft ist unwiderruflich in Bewegung gekommen. Und das zu einem Zeitpunkt, wo überhaupt nur mehr 60 Prozent der deutschen Arbeitnehmerschaft durch einen Tarifvertrag erfasst werden. Vielerorts, vor allem im Osten des Landes, steht der Flächentarifvertrag gänzlich auf der Kippe. Und nun sitzen auch noch die Spartengewerkschaften dem DGB im Nacken. Beim jüngsten Lehrerstreik etwa verhandelten Beamtenbund und die DGB-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nicht mehr zusammen über eine bundeseinheitliche Eingruppierung angestellter Lehrer. Stattdessen drohten diese mit einer eigenen Standesvertretung. Und was ist, wenn sich die Altenpfleger in Deutschland zu einer eigenen Gewerkschaft zusammenschließen? Nicht umsonst fordert Verdi deshalb in der aktuellen Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst im Schnitt zehn Prozent mehr Gehalt, bei genauerer Betrachtung für einzelne Berufsgruppen sogar ein Plus von bis zu 20 Prozent, um zu beweisen: Was Spartengewerkschaften können, können wir auch, lautet Verdis eindeutige Botschaft. Sie ist nicht etwa aus Stärke, sondern aus der Angst heraus geboren.

Der Autor ist  Wirtschaftsjournalist in Bonn.