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CHRONIK : Der nächste Anlauf

Seit Mitte der 1990er Jahre sind Vorratsdaten ein Thema. Bisherige Umsetzungen scheiterten an den Gerichten

15.06.2015
2023-08-30T12:28:04.7200Z
6 Min

Es ist 1996 und die Republik ist noch die Bonner, nicht die Berliner. Helmut Kohl (CDU) ist Kanzler, die FDP sitzt noch im Parlament und der Bundestag tagt noch im Behnisch-Bau. Dort beschäftigt in diesem Jahr ein großes Vorhaben die Parlamentarier: Ein Telekommunikationsgesetz soll verabschiedet werden, um die Liberalisierung des Sektors abzuschließen. Ein schwieriges Projekt. Bundesrat und Bundestag sind sich in vielen Punkten nicht einig. Unter den zahlreichen Änderungswünschen der Länderkammer befindet sich auch eine Mindestspeicherfrist für die nicht näher bestimmten Nutzungsdaten. Behörden sollen im Fall der Fälle Zugriff auf die Daten bei den privaten Anbieter erhalten. Doch die schwarz-gelbe Bundesregierung bügelt den Vorschlag ab. Dieser würde auf eine "mangels aktuellen Bedarfs unzulässige Vorratsspeicherung" hinauslaufen, heißt es in der Entgegnung der Regierung. Der Vorschlag landet im Papierkorb, doch die Debatte um Vorratsdatenspeicherung ist eröffnet. Sie dauert bis heute an.

Auch die Kommunikationswelt tickt damals noch anders. 1997, so ergibt die erste ARD/ZDF-Online-Studie, nutzen nur 4,1 Millionen Deutsche zumindest gelegentlich das Internet, 2014 werden es knapp 56 Millionen sein. Auch im Mobilbereich sieht es noch mau aus: 1996 gibt es laut Bundesnetzagentur knapp 5,5 Millionen "Anschlüsse" in Deutschland, 2014 werden es rund 113 Millionen sein. Handys sind noch nicht smart, es sind wahre Knochen.

Doch was 1996 noch in den Kinderschuhen steckt, entwickelt sich rasant. 1999 stellt Boris Becker voller Erstaunen in einem Werbefilmchen für einen Internetprovider fest: "Ich bin drin!" Ein Jahr später sind es schon 18 Millionen Deutsche, die das Internet mindestens gelegentlich nutzen. Auch im Mobilfunkbereich sind rasante Zuwächse zu verzeichnen. Die digitale und mobile Welt wird zunehmend Teil des Alltags vieler Menschen, auch von jenen, die sinistre Absichten verfolgen. Das entgeht auch der politischen Ebene nicht. Der Europarat diskutiert Anfang der 2000er Jahre eine erste Übereinkunft zur Computerkriminalität, die im November 2001 verabschiedet wird. Auch der Zugang zu Verkehrs- und Nutzungsdaten wird thematisiert.

2002 wagt der Bundesrat einen erneuten Vorstoß in Sachen Vorratsdatenspeicherung mit einem spezifischeren Hintergrund: Die Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie. Das Internet, so heißt es in der Begründung, gewinne in diesem Bereich zunehmend an Bedeutung, nicht nur bei der Verbreitung von kinderpornographischem Material, sondern auch beim Austausch zwischen Tätern. Es brauche eine Mindestspeicherfrist für die ohnehin von den Telekommunikationsunternehmen gespeicherten Daten. Auch auf Standortdaten will der Bundesrat Zugriff ermöglichen. Doch das Vorhaben scheitert ebenso wie der Versuch, die Speicherpflicht bei der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes 2004 unterzubringen. Die rot-grüne Koalition blockt in beiden Fällen ab.

Es wird aber nicht nur in Deutschland diskutiert. Auch auf europäischer Ebene ist das Thema aktuell. Zum Missfallen der Speicher-Kritiker bringt die EU im Mai 2002 eine Öffnungsklausel in der Datenschutzrichtlinie unter. Damit wird es den Einzelstaaten ermöglicht, aber nicht vorgeschrieben, Telekommunikationsunternehmen zur Speicherung von Verkehrsdaten über längere Zeiträume zu zwingen.

Die Diskussion über die Abwägung zwischen Datenschutz und Zugriffsmöglichkeiten für Behörden, oder allgemeiner: zwischen Freiheit und Sicherheit, hat da schon einen dramatischen Aspekt hinzugewonnen. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wird in zahlreichen Ländern der islamische Terrorismus als Bedrohung wahrgenommen. Ein Reigen von Sicherheitsgesetzen entspringt den Parlamenten. Dabei spielt auch die Vorratsdatenspeicherung eine Rolle, auch wenn sie sich in Deutschland zunächst nicht durchsetzt. Im Vereinigten Königreich wird hingegen per Eilgesetz schon im Dezember 2001 eine entsprechende Regelung erlassen Eine EU-weite Regelung rückt in die Diskussion, ein erster Vorstoß unter dänischer Ratspräsidentschaft scheitert 2002 allerdings. Fahrt nimmt die Diskussion erst nach einem erneuten Terroranschlag auf.

Am 11. März 2004 detonieren Bomben in Zügen in der spanischen Hauptstadt Madrid. 191 Menschen kommen uns Leben, mehr als 2.000 werden verletzt. Wenige Wochen später legen Frankreich, Irland, Schweden und das Vereinigte Königreich einen ersten Entwurf für eine Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung vor. Es wird diskutiert. Dann schlägt der Terror erneut zu. Am 7. Juli 2005 sprengen sich Selbstmordattentäter in Londoner U-Bahnen und einem Bus in die Luft. Mehr als 50 Menschen sterben. Die britische Ratspräsidentschaft zieht das Tempo an. Mit den beiden großen Fraktionen, Europäische Volkspartei und Sozialdemokraten, im EU-Parlament als Hauptunterstützer passiert eine Richtlinie am

14. Dezember 2005 das EU-Parlament, der Ministerrat stimmt im Februar 2006 mehrheitlich zu und die Richtlinie tritt zum

3. Mai 2006 in Kraft.

Die Richtlinie schreibt vor, dass Telekommunikationsunternehmen Verkehrsdaten für sechs bis 24 Monate auf Vorrat speichern müssen. Darunter fallen Telefonnummern und Inhaber der Anschlüsse bei der Telefonie, IP-Adressen, Daten zur Mobilfunknutzung und E-Mail. Inhalte und Standortdaten werden nicht gespeichert. Die Daten sollen zur Verfolgung "schwerer Straftaten" herangezogen werden.

Damit liegt der Ball wieder bei den Mitgliedsstaaten, denn eine EU-Richtlinie ist in nationales Recht umzusetzen. Am

9. November 2007 beschließt der Bundestag eine Regelung zur Vorratsdatenspeicherung, am 31. Dezember 2007 wird das Gesetz verkündet. Demnach sollen Verkehrsdaten sechs Monate lange gespeichert werden. Zugriff können Ermittlungsbehörden zur Verfolgung erheblicher, vor allem schwerer Straftat verlangen, auch zur Gefahrenabwehr und von Seiten der Geheimdienste sind Zugriffe zulässig.

Die Koalitionsfraktionen, SPD und die Union, verteidigen ihr Vorhaben. Die Richtlinie müsse umgesetzt werden; es werde nur auf die Mindestanforderungen eingegangen und die Speicherpflicht sei ein wichtiges Instrument, um in Bereichen wie Terrorismus und Kinderpornographie zu ermitteln. Anders die Opposition: Die Vorratsdatenspeicherung sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in Grundrechte und bedrohe die Bürgerrechte.

Verfassungsklagen Außerhalb des Parlaments formiert sich Widerstand. Unter anderem Bürgerrechtsgruppen, Journalistenverbände und die sich formierende Netzgemeinde sprechen sich massiv gegen das Vorhaben aus. Knapp 35.000 Bürger folgen einer Initiative des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung und legen Verfassungsbeschwerde ein, auch FDP- und Grünen-Politiker klagen. Einen ersten Erfolg erreichen die Gegner zügig: Im Mai 2008 erlässt das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung, die Teile des Gesetzes außer Kraft setzt. Demnach dürfen Strafverfolgungsbehörden nur bei schweren Straftaten und nur nach Einwilligung eines Richters auf die Daten zugreifen. Die Polizei und die Geheimdienste sind außen vor.

Im März 2010 kommt schließlich das eigentliche Urteil. In der vorliegenden Form ist das Gesetz nicht mit der deutschen Verfassung in Einklang zu bringen. Es sei zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, Verkehrsdaten über einen Zeitraum von sechs Monaten zu speichern, aber müssten dafür besondere Anforderungen erfüllt werden. Denn, so halten die Richter fest, die Speicherung solcher Daten ist von erheblicher Bedeutung, es sei ein schwerer Eingriff "mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt". Es könne zum Beispiel ein "diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins" hervorgerufen werden. Die Richter monieren, dass in dem Gesetz weder ausreichend darauf geachtet werde, wie die Daten eigentlich gesichert werden, noch regelt der Gesetzgeber ausreichend, wozu die Daten eigentlich verwendet werden dürfen. Auch die Gerichte in anderen EU-Staaten sehen die Richtlinie beziehungsweise deren nationale Umsetzungen kritisch: In Tschechien und Rumänien werden ebenfalls Gesetze verworfen.

Für die Bundesrepublik heißt das Urteil: alles auf Anfang. Aus der Großen Koalition ist inzwischen eine schwarz-gelbe geworden und im Justizministerium sitzt mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) eine entschiedene Gegnerin der Vorratsdatenspeicherung. Folglich kann sich die Koalition nicht auf eine Neuauflage einigen. Darüber zeigt sich die EU-Kommission wenig amüsiert. Im Mai 2012 zieht sie mit einem Vertragsverletzungsverfahren vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Es drohen hohe Strafzahlungen.

Allerdings beschäftigt sich der EuGH nach Vorlagen aus Österreich und Irland alsbald auch grundsätzlich mit der Richtlinie und ihrer Vereinbarkeit mit europäischem Recht. Die Richter in Luxemburg erklären die Richtlinie knapp acht Jahre nach ihrem Inkrafttreten im April 2014 für ungültig. Als Gründe führt das Gericht unter anderem mangelnde Verhältnismäßigkeit an. Es seien "Grenzen" überschritten und die aus Artikel 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Artikel 8 (Schutz personenbezogener Daten) verletzt. Es werde nicht ausreichend differenziert, welche Daten warum wie lange gespeichert werden müssen. Zudem kritisieren die Richter die verdachtsunabhängige Speicherung von Daten von Menschen, deren Zusammenhang zu schweren Straftaten überhaupt nicht besteht, und für die keine Ausnahmen vorgesehen sei.

In Deutschland regiert inzwischen wieder eine Große Koalition. SPD und Union hatten sich darauf verständigt, das EuGH-Urteil abzuwarten, um dann zu sehen, ob und wie eine Speicherpflicht eingeführt werden kann. Die Reaktionen auf das Urteil sind unterschiedlich: Justizminister Heiko Maas (SPD) kündigt an, erstmal keinen Gesetzentwurf vorzulegen. Bei der Union hingegen drängt man weiter auf eine nationale Regelung. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) kann dabei auch auf Unterstützung von SPD-Innenministern in den Ländern zählen.

Die Diskussion hält an. Noch im Januar 2015, nach den Terroranschlägen von Paris, spricht sich der Justizminister gegen die Vorratsdatenspeicherung aus. Doch dann spricht Maas' Parteichef und Vizekanzler Sigmar Gabriel im März diesen Jahres ein Machtwort. Die Speicherpflicht soll kommen. Leitlinien werden entworfen, ein Gesetzentwurf entsteht, der nächste Versuch startet.