Ob er je daran gedacht hat, über dieses mehrere Tausend Seiten umfassende Konvolut zu stolpern? Als der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch auf dem EU-Gipfel in Vilnius im November 2013 die Unterschrift unter das EU-Assoziierungsabkommen – auch auf russischen Druck – verweigerte, trat er damit eine Entwicklung los, die er selbst nicht mehr steuern konnte. Die Aussicht auf eine Annäherung an die EU hatte Erwartungen in der ukrainischen Gesellschaft geweckt. Janukowitschs Schaukelpolitik, die die Annäherung an die EU nie ausschloss, aber immer auch die Rückversicherung in Moskau suchte, war an ihre Grenze gekommen. Unmittelbar nach Vilnius forderten die Demonstranten auf dem Maidan bereits den Rücktritt des Präsidenten. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Janukowitsch offenbar noch daran, dem Geist des „Euromaidan“ mit Polizeigewalt begegnen zu können.
Klar ist aber auch, dass der Eindruck entstehen konnte, dass beide Seiten, Russland aber eben auch die EU, Kiew in ein Entweder-oder hineinmanövrieren: Eine Entscheidung, die ein Land wie die Ukraine zwangsläufig vor die Zerreißprobe stellen würde, so lautete die Kritik. „Ein Land kann nicht zugleich Mitglied einer Zollunion sein und in einer weitreichenden Freihandelszone mit der EU“, sagte der damaligen EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.
Im September 2014, rund ein halbes Jahr nach dem Sturz Janukowitschs, haben das ukrainische Parlament und das EU-Parlament zeitgleich die EU-Assoziierung auf den Weg gebracht. „Keine Nation hat jemals einen so hohen Preis gezahlt, um europäisch zu werden“, sagte der neue Präsident Petro Poroschenko vor den Abgeordneten in Kiew.
Die Herausforderungen, die das Abkommen für die Ukrainer – wie auch für die Georgier und Moldauer – bedeutet, bleiben gewaltig. Einen Eindruck davon vermitteln die anstehenden Reformen Kiews im Energiesektor im Zusammenhang mit einem IWF-Kredit: Die Deutsche Beratergruppe bei der ukrainischen Regierung hat zum Beispiel vorgerechnet, dass die bisher üppig subventionierten Gaspreise für Privathaushalte um bis zu 280 Prozent steigen könnten. Es gibt aber auch die Bereitschaft, sich auf solche Rosskuren einzulassen. „Das wird mühsam, keine Frage“, sagt Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Aber die Hoffnungen, die die Menschen in diesen Prozess legen, würden auch Kräfte freisetzen.
Für die Ukraine, Georgien und Moldau geht es nun darum, rund 80 Prozent des „Acquis Communautaire“ einzuführen – also des Rechtsbestands der Europäischen Union. Das Abkommen mit der Ukraine etwa sieht einen nahezu vollständigen Verzicht beider Seiten auf Zölle für Handelswaren vor. Die Ansiedlung von Unternehmen soll erleichtert, der freie Kapitalverkehr garantiert, öffentliche Ausschreibungen geöffnet und das Urheberrecht anerkannt werden. In verschiedenen Bereichen gibt es Übergangsfristen, unter bestimmten Voraussetzungen soll die Visafreiheit eingeführt werden. Die Abkommen enthalten auch Reformverpflichtungen, die von Sicherheitspolitik über gute Regierungsführung und Justiz bis hin zum Verbraucherschutz reichen. Außerdem bekennen sich die Ukraine, Georgien und Moldau gemeinsam mit der EU zu Grundwerten wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Der wirtschaftliche Teil des Abkommens mit der Ukraine soll erst Anfang kommenden Jahres in Kraft treten – darauf haben sich die Ukraine, Russland und die EU geeinigt. Geklärt werden soll bis dahin, welche Auswirkungen das Abkommen auf Russland und die ukrainisch-russischen Handelsbeziehungen haben wird.