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Sascha Raabe : »Wir müssen mehr tun«

Mit verbesserter Entwicklungszusammenarbeit lassen sich die Flüchtlingskrisen von morgen vermeiden, sagt der SPD-Politiker

28.09.2015
2023-08-30T12:28:09.7200Z
5 Min

Kein anderes Thema schlägt derzeit höhere Wellen als die Flüchtlingspolitik - und es drängt sich der Eindruck auf, die Entwicklungszusammenarbeit solle mit der Bekämpfung der Fluchtursachen nun die Kastanien aus dem Feuer holen. Kann sie das denn?

Entwicklungszusammenarbeit wirkt langfristig. Wenn man in Bildung und Gesundheit investiert, kann man natürlich nicht von heute auf morgen Wunderdinge erwarten. Aber hätten alle EU-Mitgliedstaaten und eben auch Deutschland schon vor Jahren mehr für das Ziel getan, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, dann glaube ich schon, dass nicht alle, aber doch manche Konflikte hätten vermieden werden können, die jetzt die Menschen nach Europa treiben. Es sind ja nicht nur Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wie Syrien, sondern auch aus einer Reihe afrikanischer Länder, die wegen Armut und fehlender Perspektiven ihre Heimat verlassen. Europa und die internationale Gemeinschaft haben lange Zeit bei der Nothilfe für die Syrien-Flüchtlinge versagt. Es ist skandalös, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk und das UN-Welternährungsprogramm finanziell nicht anständig für ihre Arbeit in den Flüchtlingslagern ausgestattet sind.

Bei den Millenniumsentwicklungszielen aus dem Jahr 2000 wurde einiges erreicht, vollständig umgesetzt sind sie nicht. Warum gibt sich die Weltgemeinschaft jetzt eine neue Agenda für "Sustainable Development Goals" (SDG) - also für nachhaltige Entwicklungsziele?

Der Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung konnte mit den Millenniumszielen halbiert werden. Damit können wir uns aber nicht zufrieden geben. Knapp eine Milliarde Menschen leben noch immer in extremer Armut. Neu ist, dass sich jetzt wohlhabendere und ärmere Länder auf gemeinsame Ziele verpflichten, was zu einer insgesamt glaubwürdigeren Agenda führt. Und diese listet eine ganze Reihe von Punkten auf, die bei den Millenniumszielen kaum berücksichtigt waren: Steuergerechtigkeit und gute Regierungsführung etwa, vor allem menschenwürdige Arbeit für alle und die Verpflichtung auf ein inklusives, nachhaltiges und breitenwirksames Wirtschaftswachstum.

Bisher haben wohlhabende Nationen gezahlt, Entwicklung war etwas für arme Nehmerländer. Mit den SDGs sollen sich alle Länder verändern. Was bedeutet das für Deutschland?

Wenn wir pro Kopf deutlich mehr CO2 verbrauchen als die meisten anderen, dann ist das Auftrag für uns, noch mehr für den Klima- und Umweltschutz zu tun. Die neuen Entwicklungsziele geben uns auch auf den Weg, etwas gegen die wachsende soziale Schere bei uns zu tun. Wir sollten mit gutem Beispiel vorangehen, etwa Steuerbetrug und Steuerflucht stärker bekämpfen und an einem gerechteren Steuersystem arbeiten, zu dem Vermögende wieder mehr beitragen. Nur so werden wir das Entwicklungsziel erreichen, auch bei uns die relative Armut zu halbieren.

Die Post-2015 Agenda umfasst 17 Haupt- und 169 Unterziele und lässt eigentlich kein Politikfeld aus: Armutsbekämpfung, Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung, Artenschutz, Industrialisierung, Urbanisierung, Gleichstellung von Mann und Frau, Rechtsstaatlichkeit. Ist das Programm zu ambitioniert?

Ganz und gar nicht. Jedes dieser Unterziele bringt die Chance, dass die Zivilgesellschaft, dass Nichtregierungsorganisationen, die ja auch in hohem Maße spezialisiert sind, die politisch Verantwortlichen daran konkret messen können.

Wie verbindlich sind all diese Ziele? Wie soll überprüft werden, ob ein Land daran arbeitet und sie umsetzt?

Das ist die entscheidende Frage, mit der der Erfolg der SDGs steht und fällt. Sie sind nur in dem Maße verbindlich, in dem das jeweilige Land sich dem Post-2015-Prozess verpflichtet fühlt. Es sind keine Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen. Es liegt an uns Parlamentariern, an der Zivilgesellschaft, an den Medien, darauf zu drängen, dass die Regierungen an der Umsetzung der Ziele arbeiten. Die EU hat sich jüngst verpflichtet, bis 2030 das 0,7 Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist ein Ziel, das eigentlich schon bis 2015 hätte erreicht werden sollen, deshalb ist das kein Schritt, den man bejubeln kann. Ich finde, das muss auf jeden Fall umgesetzt werden, und zwar am besten verbindlich und weit vor 2030.

Teilen Sie die Kritik, dass die Entwicklungszusammenarbeit ein Reparaturbetrieb sei, der wieder aufbaut, was man auf anderen Politikfeldern zuvor eingerissen hat?

Entwicklungszusammenarbeit bedeutet vor allem Prävention und Vorbeugung. Bei vielen Konflikten ist zum Beispiel der Zugang zu Land und Wasser ein ganz entscheidender Faktor. Im Sudan etwa haben verschiedene Religionen und Ethnien einigermaßen friedlich zusammengelebt, bevor durch Dürren, auch durch den Klimawandel bedingt, der Streit um Weideland ausbrach. Hinter vielen Konflikten, die wir als ethnische oder religiöse interpretieren, stecken eigentlich solche Fragen und hier kann Entwicklungspolitik ansetzen.

Sollten wir unsere Handelspolitik überdenken?

Unsere Handelspolitik ist nicht kohärent, da müssen wir noch viel verändern. Umstritten ist im Augenblick beispielsweise das EU-Freihandelsabkommen mit Westafrika. Hier sind keinerlei Mechanismen vorgesehen, um den Handel auch an ökologische und arbeitsrechtliche Bedingungen zu knüpfen. Das bedeutet, dass diese Staaten auch weiterhin nicht die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berücksichtigen müssen. Konkret werden also auf den Kakaoplantagen weiterhin Kinder schuften müssen und die Kakaobohnen können ungehindert zollfrei in die EU gelangen. Für diese Generation der Kinderarbeiter werden Perspektiven fehlen, was dann wieder zu Konflikten und Flüchtlingskrisen führen kann. Hier setzt übrigens aus entwicklungspolitischer Sicht auch die Kritik am transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP an: Solange nämlich darin nicht verbindlich und sanktionierbar alle acht ILO-Kernarbeitsnormen verankert werden, können wir Indien und Vietnam, mit denen wir auch Freihandelsabkommen anstreben, schlecht sagen, dass sie sich solchen Normen verpflichten sollen.

Warum sollten Länder, die auf dem Sprung sind, sich jetzt Belehrungen von uns anhören? Auch in Europa rauchten anderthalb Jahrhunderte die Schlote über den Fabriken.

Es liegt im gemeinsamen Interesse, dass der Klimawandel nicht weiter voranschreitet, aber wir müssen uns als Industrienationen in der Tat zu unserer besonderen Verantwortung bekennen. Nichts anderes meint ja das Prinzip der gemeinsamen aber geteilten Verantwortung, auf das sich die Weltgemeinschaft mit den neuen Entwicklungszielen verpflichtet. Andererseits steht in vielen Ländern die soziale Frage völlig zu Recht auf der Agenda und man sieht dort womöglich nicht leichten Herzens ein, auf den Bau von Kohlekraftwerken zu verzichten, die für die Entwicklung nötig wären. Deswegen müssen wir ihnen substantiell dabei helfen, mit intelligenter Technik erneuerbare Energien erzeugen zu können. Das darf aber nicht bedeuten, dass sie uns lediglich teure Windkrafträder oder Solaranlagen abkaufen und die Wertschöpfung nur bei uns bleibt.

Müssen die Industrienationen ihren Wohlstand stärker teilen, um ihn zu bewahren?

Wenn man mal beim 0,7-Prozent-Beispiel bleibt, dann ergibt das bei 100 Euro 70 Cent. Das gefährdet unseren Wohlstand nicht, im Gegenteil. Es würde uns teurer zu stehen kommen, wenn wir bei der Entwicklungszusammenarbeit sparen. Es wäre ein Gewinn für alle Seiten, wenn man mit den SDGs überall auf dem Globus für menschenwürdige Arbeit und nachhaltiges Wirtschaften sorgt. Die Partnerländer sollen ihren Weg finden und langfristig auf eigenen Beinen stehen. Entwicklungszusammenarbeit soll schließlich kein Dauerzustand sein.

Das Gespräch führte A lexander Heinrich.

Sascha Raabe (SPD) gehört dem Bundestag seit 2002 an und ist Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung .