Piwik Webtracking Image

NSA-AFFÄRE : Auftritt des Zankapfels

Der Sachverständige Kurt Graulich erläutert dem Untersuchungsausschuss seinen Bericht

09.11.2015
2023-08-30T12:28:11.7200Z
4 Min

Es war der zweite Absatz auf Seite 129, der Hans-Christian Ströbele ein irritierendes Leseerlebnis beschert hatte. Nun war Gelegenheit, die Sache mit dem Autor persönlich zu klären. "Haben Sie", fragte der Grünen-Abgeordnete, "Ihren Auftrag so verstanden, die Einsichtnahme der Abgeordneten zu ersetzen? Haben Sie damit auch meine Einsichtnahme ersetzt?" Sich also Ströbeles Parlamentarierrecht angeeignet? "Haben Sie kein Problem damit, dass Sie das jetzt ersetzen sollen?"

Was half es da Kurt Graulich, dass er in seinem Bericht das Wort "ersetzen" mit Anführungszeichen versehen hatte? Es konnte ihm nicht entgehen, dass er am vergangenen Donnerstag als Stein des Anstoßes im Europasaal des Paul-Löbe-Hauses saß, ein personifizierter Zankapfel zwischen Koalition und Opposition im 1. Untersuchungsausschuss (NSA).

Als "unabhängige Vertrauensperson" für Regierung und Parlament war der frühere Bundesverwaltungsrichter vor der Sommerpause angetreten. Doch von vornherein hatte ihm nur ein Teil des Ausschusses diese Funktionsbeschreibung geglaubt. Für den anderen Teil erklärte bereits vor der Sitzung am Donnerstag Konstantin von Notz (Grüne): "An der Unabhängigkeit haben wir ganz erhebliche Zweifel." Und Martina Renner (Linke) sah in Graulichs Bericht eine "Auftragsarbeit für die Bundesregierung". Für Christian Flisek (SPD) ist das Gutachten dagegen "in jeder Hinsicht als unabhängig und auch als fachkundig zu bewerten".

Es ist ein Streit, dessen Anfänge ins Frühjahr zurückreichen, als Ende April ruchbar geworden war, dass der US-Geheimdienst NSA in der mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) betriebenen Abhöranlage in Bad Aibling auch Suchbegriffe, sogenannte "Selektoren", eingesteuert hatte, die zur Ausspähung europäischer Ziele geeignet waren.

Die Nachricht machte eine Weile in der Öffentlichkeit Furore und elektrisierte den Ausschuss - vor allem, als bekannt wurde, dasss der BND über eine Liste politisch bedenklicher Selektoren verfügt, die im Laufe der Jahre angefallen waren. Die weitaus meisten im Spätsommer 2013, nachdem der frühere NSA-Mitarbeiter Edward Snowden mit seinen Enthüllungen über US-Dienste auch beim BND einen Lernprozess ausgelöst hatte.

Die Abgeordneten verlangten die Herausgabe der Liste. Die Bundesregierung verwies auf Geheimschutzinteressen in der Kooperation mit den USA und stellte sich quer. Schließlich erbot sie sich, einer "unabhängigen Vertrauensperson" die Lektüre zu gestatten, worüber dann der Ausschuss in Kenntnis gesetzt werden durfte. Die Koalition willigte ein, wenn auch in ihrem sozialdemokratischen Teil mit vernehmlichem Zähneknirschen. Die Opposition sprach von "Selbstentrechtung des Parlaments" und klagt jetzt in Karlsruhe auf Herausgabe der Liste.

Es wird Linke und Grüne nicht freundlicher gestimmt haben, dass Graulich seinen Bericht, eine imposante Fleißarbeit, in drei Versionen vorgelegt hat. Einer öffentlich zugänglichen, 262 Seiten. Einer etwas längeren halböffentlichen zum Gebrauch der Abgeordneten. Die gewichtigste umfasst 460 Seiten und ist dem Kanzleramt vorbehalten; allein hier ist das Gesamtergebnis nachzulesen. Ebenso wenig wird die Entdeckung, dass der Bericht Passagen enthält, die wortgleich aus internen BND-Dokumenten übernommen sind, das Vertrauen der Opposition gekräftigt haben. Geschweige denn der Umstand, dass Graulich seine Arbeit in Räumen des BND und mit Unterstützung von Geheimdienstlern angefertigt hat. Der Sachverständige habe sich "indoktrinieren" lassen, mutmaßten Linke und Grüne.

Sie hatten zunächst vorgehabt, sich zum Zeichen ihres Protests jeglicher Fragen zu enthalten. Dabei blieben sie dann doch nicht. Am Ende hatten sie mehr Fragen als die Koalition. Hin und wieder entspannten sich regelrechte Wortgefechte. Mit Verve wies Graulich den Verdacht von sich, beim BND abgekupfert zu haben. Er habe Rechtsauffasssungen des Dienstes zitiert, ohne sie sich zu eigen zu machen. Und zu indoktrinieren sei er schon gar nicht: "Mich beeindrucken weder eine schlechte Presse noch der BND noch Fragen des Parlaments." Warum er die übernommenen Passagen nicht als Zitate kenntlich gemacht habe? Vertrauliche Dokumente unterlägen einer "Zitiersperre", entgegnete Graulich, und überhaupt: "Ich habe keine wissenschaftliche Arbeit geschrieben, sondern einen behördlichen Bericht."

Unverkennbar schien gleichwohl, dass sich Graulich in erster Linie als Gutachter der Bundesregierung verstand. Für deren Entscheidung, den Abgeordneten die Liste vorzuenthalten, bekundete er Verständnis. Der NSA komme das "Urheberrecht" an den von ihr generierten Selektoren zu. Sie seien "geistiges Eigentum" der US-Amerikaner, insofern liege eine Parallele zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen in zivilrechtlichen Verfahren vor: "Über Geschäftsgeheimnisse der NSA kann nicht verhandelt werden nach Mehrheitsverhältnissen".

Und während der Grünen-Mann Notz in einer Sitzungspause bekräftigte, es stehe "im Raum, dass hier millionenfache Grundrechtsverletzung eine Rolle gespielt" habe, machte Graulich keinen Hehl aus seiner Ansicht, dass er die ganze Debatte für reichlich überzogen hält: "Anlasslose globale Massenüberwachung, ich kann es nicht mehr hören. Wir können es nicht dabei belassen, uns Schablonen um die Ohren zu hauen." Die Beobachtung von Datenverkehren mit Hilfe von Selektoren sei das Gegenteil von anlasslos und masssenhaft: "Für jeden Selektor gab es eine Begründung."

39.000 abgelehnte Selektoren Immerhin verfügt der Ausschuss dank Graulich jetzt über präzise Zahlen, wie Patrick Sensburg (CDU) hervorhob. Mitte Mai 2015 umfasste die BND-Liste abgelehnter NSA-Selektoren 39.082 Positionen, von denen sich 2.918 auf Telefonnummern und 36.164 auf Internet-Adressen bezogen. Dieser Gesamtbestand betraf zu 68,7 Prozent Regierungsstellen in EU-Staaten, zu elf Prozent deutsche Grundrechtsträger. Unter den als politisch bedenklich erkannten und aussortierten Selektoren waren 86,9 Prozent länger als 100 Tage aktiv.

Ansonsten ergab die sechsstündige Befragung wenig, was man über den Umgang des BND mit Selektoren nicht schon wusste. Nach dem Eindruck der Opposition war es sogar weniger, als andere Zeugen dem Untersuchungsausschuss bereits berichtet hatten.