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ARBEIT : Was ist Standard?

Linke und Grüne kritisieren die Koalitionspläne zur Begrenzung der Leiharbeit. SPD und Union verteidigen die Flexibilität des Arbeitsmarktes

09.11.2015
2023-08-30T12:28:11.7200Z
4 Min

Im Mai dieses Jahres ließ die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Sozialpolitiker aufhorchen: In einer Studie hatte sie herausgefunden, dass weltweit drei Viertel der Arbeitnehmer keine ausreichend sozial abgesicherte Vollzeitstelle mit festem Vertrag und sicherem Gehalt haben. "Das bisherige Standardmodell eines sicheren Arbeitsplatzes mit einem regulären Einkommen ist immer weniger repräsentativ für die heutige Arbeitswelt", sagte ILO-Generaldirektor Guy Ryder. In diese Analyse bezog er die westlichen Industriestaaten ausdrücklich mit ein.

Nun gilt in Deutschland zwar seit Januar der flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Stunde. Auch ist das Land weit davon entfernt, dass drei Viertel der Beschäftigten von ihrem Lohn nicht leben können. Für die Fraktion Die Linke hat sich damit jedoch das Problem der prekären Arbeit nicht erledigt, weshalb sich der Bundestag auf ihre Initiative hin in der vergangenen Woche erneut mit dem Thema befasste. Gegenstand der Debatte waren zwei Anträge der Linken, in denen es zum einen um die Situation junger Beschäftigter (18/6362) und zum anderen um die stärkere Regulierung und Eingrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen (18/4839) geht.

Klaus Ernst (Die Linke) verteidigte die Anträge mit dem Hinweis, dass 25 Prozent der Unter-25-Jährigen und zwei Drittel der jungen Frauen nur befristete Verträge erhalten, ohne dass es dafür einen sachlichen Grund gebe. "Warum dulden wir, dass in Betrieben die Beschäftigten gespalten werden? Warum akzeptieren wir das, obwohl die Wirtschaft boomt?", fragte Ernst. Er warf der Koalition Etikettenschwindel vor, wenn sie plane, die gleiche Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbelegschaft nach neun Monaten gesetzlich verankern zu wollen. Dies mache keinen Sinn, weil die Hälfte der Leiharbeitsverträge nur drei Monate dauerten, so Ernst. Die Linke fordert seit Jahren ein Verbot von sachgrundlosen Befristungen und gleiche Bezahlung von Leiharbeit vom ersten Tag an.

Tiefgreifender Wandel Die Union konnte die Linke mit dem Verweis auf die Zahlen jedoch nicht wachrütteln. Im Gegenteil stellte Albert Stegemann (CDU) in seiner Fraktion schon gewisse "Ermüdungserscheinungen" angesichts der erneuten Debatte zu diesem Thema fest. Er betonte, dass "wir als Gesetzgeber einen funktionierenden Arbeitsmarkt nicht verordnen können". Dies funktioniere nur durch ein ständiges Austarieren von Interessen durch die Tarifparteien. Alle anderen Forderungen seien Populismus. Er erteilte deshalb den Anträgen der Linken eine Absage. "Ein tragfähiger Arbeitsmarkt in einer globalen Welt muss mehr bieten als einen unbefristeten, möglichsten einheitlichen Tarifvertrag mit möglichst vielen Sozialleistungen", sagte Stegemann.

Laut ILO-Studie ist das global bereits längst der Fall und auch in Deutschland hat sich der Arbeitsmarkt in den vergangenen 20 Jahren erheblich verändert. Trotz der insgesamt guten aktuellen Lage mit mehr als 43 Millionen Erwerbstätigen und einer Arbeitslosenquote von sechs Prozent hat der Anteil der sogenannten atypischen Beschäftigung deutlich zugenommen. Dazu gehören befristete Jobs, solche mit Teilzeit von 20 Stunden oder weniger, Leiharbeit und die geringfügige Beschäftigung (Minijob). Die Union wandte in der Debatte zwar ein, dass dies nicht automatisch bedeute, finanziell in prekären Verhältnissen zu leben. Zahlreiche Studien zeigen aber auch, dass nur die wenigsten Beschäftigten freiwillig solche Beschäftigungsverhältnisse wählen, sondern auf sie aus Mangel an Alternativen zurückgreifen.

Insofern stimmte Beate Müller-Gemmeke (Bündnis 90/Die Grünen) der Linken in ihrem Befund zu, "dass für immer mehr junge Menschen der Weg in den Beruf nur über prekäre Beschäftigung läuft". Aber: "So ein Start ist wenig motivierend und ermutigend schon gar nicht. Wenn Unsicherheit zum Normalzustand wird, dann fehlen Chancen für Familienplanung, aber auch für gesellschaftliches Engagement", so die Grünen-Abgeordnete. Auch sie kritisierte den Plan der Bundesregierung für eine gleiche Bezahlung der Leiharbeiter nach neun Monaten und eine Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten als völlig realitätsfremd. Sie forderte, wie die Linken, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und eine gleiche Bezahlung der Leiharbeit ab dem ersten Tag der Beschäftigung.

Für die SPD warf Michael Gerdes der Linken vor, unseriös mit den Zahlen umzugehen. Denn eine genaue Analyse zeige, dass es vor allem Jugendliche ohne Ausbildung seien, die in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten. Hierauf müsse der Gesetzgeber Antworten finden, so Gerdes. Er erteilte dem Missbrauch von Werkverträgen eine klare Absage. Es könne nicht sein, dass für Stammbelegschaften und Leiharbeiter unterschiedliche Arbeitsbedingungen gelten. "Aber wir stehen dazu, Leiharbeit auf ihren Kern zu begrenzen. Sie ist durchaus ein Instrument zur Abdeckung von Auftragsspitzen oder Urlaubszeiten. Wogegen wir uns wehren, sind dauerhafte Überlassungen und Scheinwerkverträge mit hohen sozialen Risiken und Ungleichbehandlung", sagte Gerdes.