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drogen : Der Diktator im Dauerrausch

Was der Arzt Morell mit Hitler machte. »Doktorchen, ich freue mich ja so, wenn Sie morgens kommen.«

21.12.2015
2023-08-30T12:28:14.7200Z
3 Min

Theodor Morell (1886-1948) war offenbar ein geschäftstüchtiger Mediziner. Seine Vitaminspritzen müssen damals am Berliner Ku'damm ein Knaller gewesen sein unter den prominenten Patienten. Auch galt er als begnadeter Spritzengeber, schmerzlos, harmlos. Dass Morell 1936 zum "Leibarzt des Führers" aufstieg, gehörte nicht zu seinem Lebensplan. Fakt ist aber: Der Arzt kam der jederzeit effektvoll ausgeleuchteten Führerfigur näher als irgendwer sonst während des Krieges und erhielt intime Einblicke in die Alltagsbeschwerden Hitlers. Während Berlin von den Alliierten zerbombt wurde, verwandelte sich auch der einst so asketische Diktator Adolf Hitler in eine menschliche Ruine, zuletzt ein zittriger, kranker Greis. Wie ist dieser körperliche (und psychische) Zerfall zu erklären? Der Schriftsteller Norman Ohler legt in seinem ersten Sachbuch "Der totale Rausch" nahe, dass der eigentlich so gesundheitsbewusste Diktator mit Hilfe Morells eine steile Drogenkarriere hingelegt hat.

Pervitin Zu den am meisten verkauften, problematischen Mitteln zählte damals Pervitin, ein "Stimulanz für Psyche und Kreislauf", das gegen Depressionen, als Schlankmacher und zur Leistungssteigerung millionenfach Verwendung fand. Sogar stillende Mütter nahmen den Stoff gegen den Babyblues, Hildebrand-Pralinen mit hoher Pervitin-Dosierung wurden als Muntermacher bei der Hausarbeit empfohlen. Heute gilt die Substanz als Horrordroge schlechthin und ist unter der Bezeichnung Methamphetamin oder Crystal Meth im Umlauf. Als im Sommer 2014 bekannt wurde, dass der SPD-Innenexperte Michael Hartmann zeitweilig Crystal Meth zur Leistungssteigerung genommen hatte, war die Betroffenheit groß. Ganz anders zu Kriegszeiten: Da war die Betroffenheit groß, wenn Pervitin nicht in ausreichenden Mengen rechtzeitig verfügbar war. Pervitin war damals zeitweilig so gängig wie heute Aspirin. In Berlin-Johannisthal produzierten die Temmler-Werke einst den Pervitin-Nachschub für die deutsche Armee. Die anfänglichen Blitzkriegerfolge der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg wären, meint Ohler, ohne die Wunderdroge gar nicht möglich gewesen. Der Autor zitiert einen damaligen Sanitätsoffizier mit der Einschätzung: "Ich bin überzeugt, dass bei großen Anstrengungen, wo auch das Letzte aus der Mannschaft herausgeholt werden muss, eine mit Pervitin versorgte Truppe einer anderen überlegen ist."

Patient A Morell hat, rein pharmakologisch, auch aus Hitler das Letzte herausgeholt. Ohler seziert dazu unter anderem die kryptischen Eintragungen des Arztes auf einer Karteikarte von 1943, wo Hitler unter dem Codenamen "Patient A" aufgeführt ist. Im Laufe der Jahre versorgte Morell den Diktator mit einem ganzen Arsenal an Stimulantien, darunter etliche psychoaktive Substanzen. Ohler schreibt: "Immer augenscheinlicher bestimmten die Spritzen den Tagesablauf, und mit der Zeit reicherten über 80 verschiedene, häufig genug unkonventionelle Hormonpräparate, Steroide, Mittelchen und Arzneien die Führermischung an." Während Hitler offenbar nicht merkte, was mit ihm geschah, sorgte Morell dafür, dass der Kriegsherr bei Stimmung blieb. Morell notierte im Herbst 1944, wie dankbar Hitler die tägliche Dosis aufnahm: "Doktorchen, ich freue mich ja so, wenn Sie morgens kommen."

Ohler liefert mit seiner spektakulären Betrachtung der historischen Ereignisse durch die Drogenbrille interessante Erklärungsansätze für merkwürdige militärische Entscheidungen und das wahnhafte Auftreten Hitlers. Die Thesen werden mit einer Fülle von Anmerkungen, Quellen- und Literaturhinweisen penibel gestützt. Das ist nützlich und überzeugend, es bleibt aber ungeklärt, welche zentrale Schlussfolgerung aus den Fakten resultiert. Sicherheitshalber stellt Ohler fest, dass Hitlers "monströse Schuld" durch den Dauerrausch nicht relativiert werden kann. Etwas fischig schimmert bisweilen die Mutmaßung durch, weniger Drogen hätten mehr Erfolge gebracht. Wäre das etwa gut gewesen?

Dass in der Wehrmacht und unter Nazigrößen (Göring war Morphinist) Drogen gängig waren, ist nicht neu. Das Buch besticht aber durch die einschlägige Sichtweise und den spannenden Erzählstil, der leider öfter in Metaphern-Klamauk ausartet. Kenner der Materie werden überraschende Details entdecken, wer mit dem Thema weniger vertraut ist, findet einen leichten Einstieg mit ganz unterschiedlichen Aspekten in diese dunkelste Epoche der deutschen Geschichte.