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EUROPA
Silke Wettach/Johanna Metz
Auf der Bremse

Ob Briten-Frage oder Grenzschutzreform - die EU will erst 2016 entscheiden

Der letzte EU-Gipfel im Jahr 2015 hat einmal mehr offen gelegt, wie tief die Risse zwischen den 28 EU-Mitgliedstaaten sind. Konkrete Entscheidungen zu wichtigen Themen wie Migration und den britischen Forderungen über eine Reform der EU haben die Staats- und Regierungschefs auf das kommende Jahr vertagt.

Immerhin war der Ton in Brüssel diesmal deutlich versöhnlicher als bei den vorherigen Treffen. In ihrer gemeinsamen Erklärung gestanden die Staats- und Regierungschefs ein, dass ihre Strategie zur Flüchtlingskrise viel zu langsam greife und die Erstaufnahmezentren für Flüchtlinge ("Hotspots") in Italien und Griechenland noch immer nicht wie geplant funktionierten. Trotz intensiver Verhandlungen konnten sie außerdem erneut nicht klären, wie sie die drei Milliarden Euro aufbringen wollen, die sie der Türkei beim Gipfel Ende November zur Bewältigung der Flüchtlingskrise versprochen hatten.

Heftig diskutiert wurde in Brüssel der Vorschlag der EU-Kommission, die europäische Grenzschutzagentur Frontex mit größeren Befugnissen zum Schutz der EU-Außengrenzen auszustatten. Falls die Lage es erfordert, soll sie vor Ort eingreifen dürfen, auch wenn das betroffene EU-Mitgliedsland nicht ausdrücklich darum bittet. Doch obwohl allseits Einigkeit darüber bestand, dass es an den Außengrenzen Handlungsbedarf gibt, kam es in Brüssel zu keiner Einigung. Die Staats- und Regierungschefs verständigten sich lediglich darauf, den Gesetzgebungsprozess im ersten Halbjahr 2016 abzuschließen. Und selbst das erscheint ambitioniert: Im Vorfeld des Gipfels hatten Länder wie Ungarn und Polen gegen die Aufgabe nationaler Souveränität opponiert. Und in Brüssel stellte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite klar: Zu einem Frontex-Einsatz ohne Zustimmung des betroffenen Landes werde es nicht kommen.

Das Europäische Parlament hingegen begrüßt den Vorschlag der Kommission. So sagte der Fraktionsführer der Liberalen, Guy Verhofstadt, am Mittwoch in der Debatte zum Thema: "Ohne den Plan ist Schengen am Ende." Er sprach sich sogar dafür aus, Länder, die ihn zurückwiesen aus dem Schengen-Raum auszuschließen.

Für eine rasche Umsetzung der Frontex-Reform ist auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). In ihrer Regierungserklärung im Bundestag sagte sie in der vergangenen Woche, die Vorschläge gingen in die richtige Richtung, auch wenn "wir sehr sorgfältig abwägen müssen, welche Maßnahmen in Zukunft auf welcher Ebene verantwortet werden sollen". Es gehe aber nicht nur um den Schutz der Außengrenzen, erklärte Merkel, sondern auch darum, "Frontex eine größere Rolle bei den notwendigen Rückführungen einzuräumen bei Flüchtlingen, die keinen Schutzanspruch in der EU haben".

Die Opposition warf ihr daraufhin erneut vor, eine Politik gegen Flüchtlinge zu betreiben. Menschen, die um ihr Leben fürchteten, "lassen sich nicht von Hotspots, Mauern, Zäunen und Frontex aufhalten", zeigte sich Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch überzeugt. Er forderte Merkel auf: "Bringen Sie Ihre Autorität ins Spiel, damit Flüchtlingspolitik keine Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik, sondern Menschenrechtspolitik wird".

Annalena Baerbock (Grüne) sagte, man dürfe nicht nur über Rückführungen und Frontex reden, sondern müsse auch über die europäische Grundrechteagentur sprechen, über die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Die Frage sei, so Baerbock, "wie wir an den Außengrenzen die Würde der Menschen erhalten, auf Lesbos und an allen anderen Orten".

Die CSU-Landesgruppenvorsitzende Gerda Hasselfeldt zeigte sich indes "dankbar", dass die Bundeskanzlerin "bei den offenen Fragen - ob es um die Sicherung der EU-Außengrenzen, die Entscheidung über die Hotspots oder die Verhandlungen mit der Türkei geht - immer an vorderster Stelle mitarbeitet, um das Ziel 'weniger Flüchtlinge' zu erreichen". Aber "natürlich" sei auch die Bekämpfung der Fluchtursachen international notwendig, betonte Hasselfeldt.

Erstmals sprachen die Staats- und Regierungschefs auf einem EU-Gipfel über die Forderungen des britischen Premierministers David Cameron zur Reform der EU. Als Bedingung für einen Verbleib seines Landes in der EU verlangt er unter anderem "stärkere Kontrollen" bei der Einreise von EU-Bürgern nach Großbritannien. EU-Migranten sollten zudem erst nach vier Jahren bestimmte Vergünstigungen wie Kindergeld oder Steuererleichterungen erhalten. Und Nicht-Euro-Länder sollten niemals für Kosten zur Stabilisierung des Euros aufkommen müssen. Cameron gab sich vor Beginn des Gipfels kämpferisch: "Ich werde die Nacht durch hart für Großbritannien kämpfen, und ich denke, wir bekommen einen guten Deal." Doch die anderen EU-Staaten traten auf die Bremse: Konkrete Entscheidungen wollen sie erst beim nächsten Gipfel am 18. und 19. Februar treffen.

Am schwierigsten dürfte es werden, eine Lösung zu finden für die geforderte Einschränkung der Sozialleistungen für EU-Ausländer. Sie widerspricht dem EU-Prinzip der Nicht-Diskriminierung. Bundeskanzlerin Merkel stellte im Bundestag klar: "Wir wollen und werden Errungenschaften der europäischen Integration nicht in Frage stellen." Gleichwohl signalisierte sie Kompromissbereitschaft, um Großbritannien in der EU zu halten.

Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann machte sich für einen Verbleib der Briten in der Union stark. Großbritannien sei eine "große politische, kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung für die EU". Sie werde aber nicht erfolgreich sein, "wenn sich alle nur die Rosinen herauspicken dürfen", warnte Oppermann.

Silke Wettach ist Korrespondentin der Wirtschaftswoche in Brüssel.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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