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Susanne Kailitz
Kurz Notiert

Kaum ein politisches Ereignis hat Deutschland in den letzten Jahrzehnte so schnell so stark verändert wie die Flüchtlingskrise. Kaum ein Ereignis ist gleichzeitig über die Akteure so unerwartet hereingebrochen - hier wurde Politik nicht in endlosen Debatten und langwierigen Entscheidungsfindungen gemacht, sondern häufig im Handstreich. Nur wenige Menschen kennen deshalb die Details dieser schier atemlosen neuen deutschen Flüchtlingspolitik seit dem Spätsommer 2015, die das Bild Deutschlands in aller Welt nachhaltig verändert und das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Kanzlerin gehörig durcheinander geschüttelt hat. Es ist deshalb ein besonderes Verdienst des "Welt"-Journalisten Robin Alexander, die Geschehnisse aufgearbeitet und aufgeschrieben zu haben.

In seinem Buch "Die Getriebenen" wird deutlich, von wie vielen Zufällen und persönlichen Befindlichkeiten die Öffnung der deutschen Grenzen im September 2015 und, viel wichtiger, das lange Bestehen dieser "Ausnahme" abhing. Doch auch wenn diese Schilderung viele, so wie den FDP-Chef Christian Lindner, der das Buch Mitte März in Berlin vorstellte, in ihrer Überzeugung bestärken, die Kanzlerin habe das Land in unverantwortlicher Weise getäuscht, ist das Buch nicht als plumpe Abrechnung zu lesen.

Seine wirkliche Stärke liegt darin, dass Alexander in die Tiefe geht, um zu ergründen, warum Merkel, Seehofer und Co. so handelten, wie sie handelten, ohne sich auf die Feststellung zu beschränken, dass viele ihrer Annahmen falsch waren. Es ist lehrreich nachzulesen, warum das Verhältnis von Merkel und dem türkischen Präsidenten Erdogan so schlecht ist und wie es im Zusammenwirken aller Akteure zum Türkei-Deal kommen konnte. Erhellend ist weniger die Feststellung, dass Merkel oft zu lange zögert und dann allein entscheidet, sondern die Beschreibung, wie mühsam das Kleinklein der großen Politik ist und welche Auswirkungen Entscheidungen haben, die unter Druck gefällt werden. Häme gibt es dafür vom Autor nicht. So fair sollte Journalismus immer sein.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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