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Öffentlicher Nahverkehr
Nadine Oberhuber
Kurz vor dem Kollaps

Großstädte wachsen, ihr Verkehrsnetz nicht - das liegt am Geld, schlechter Planung und falschen Konzepten. Dabei gäbe es Lösungen

Morgens um sieben wird es eng in dieser Stadt. So eng, dass man kaum noch die Füße vom Fleck bewegen kann und den Atem des Hintermannes im Nacken spürt. So eng, dass man meint, der ganze Waggon müsse gleich bersten vor Menschen, so vollgestopft wie er ist. Wer schon immer mal wissen wollte, wie sich Klaustrophobie anfühlt, der sollte morgens um sieben in München U-Bahn fahren. Hunderttausende durchleben genau das jeden Tag, weil sie gar nicht anders können: Schüler müssen zur Schule, Angestellte zur Arbeit, andere zu Bahnhöfen oder zum Flughafen. Allein 400.000 Umlandbewohner pendeln jeden Tag in die Stadt ein - und ebenso viele fahren aus ihr hinaus, zu Büros oder Laboren draußen im Speckgürtel. Jeden Tag morgens um sieben ist Münchens Nahverkehr nahe an seiner Maximalbelastung.

Kein Wunder, denn in den vergangenen Jahren ist die Einwohnerzahl der bayerischen Metropole stark gewachsen auf inzwischen 1,45 Millionen. Rund 20.000 Zuzügler jedes Jahr registrierte die Stadt zuletzt. Bereits 2025 sollen 300.000 Menschen mehr in der Stadt leben als bisher. Etwa 700 Millionen Fahrgäste jährlich zählen Busse, Bahnen und Tram schon jetzt. Doch der Ausbau des Verkehrssystems hält längst nicht Schritt mit dem Bevölkerungszuwachs. Wie auch? Zwischen 2004 und 2015 kürzte die Landesregierung die Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) um 800 Millionen Euro. Obwohl die Fahrgastzahlen jährlich um bis zu drei Prozent steigen, erhöht sich die Taktung der Bahnen nicht. In Berlin, Hamburg oder Köln fahren die U-Bahnen im Fünf-, Vier- oder sogar Dreiminutentakt. München schafft meist nur den Zehnminutentakt, S-Bahnen fahren werktags nur alle 20 Minuten und das auch nur bis Mitternacht - wenn überhaupt. Denn Verspätungen, Zugausfälle und Streckensperrungen sind an der Tagesordnung, vor allem auf den Linien zum Flughafen.

All das, findet das Bündnis "Aktion Münchner Fahrgäste", sei "einer 1,5-Millionenstadt absolut unwürdig". Jahrelange warnte auch der Chef der Verkehrsbetriebe MVG, Herbert König: "Es wird in ein paar Jahren zum Kollaps kommen", wenn nicht endlich etwas passiere. König ist mittlerweile in Rente, doch passiert ist wenig. Tram-, U- und S-Bahnstrecken, für die der Ausbau vor Jahren beschlossen wurde, kommen nicht in die Gänge, so wie die West- und Nordtangente der Trambahn, die der Stadtrat schon 1991 absegnete. Neue Buslinien gibt es nur in homöopathischen Dosen (immerhin hat die neue SPD-Stadtregierung eine "Taskforce Busoffensive 2018" angekündigt). Zudem gibt es zwar ein dutzend neuer Ausbauprojekte, die geprüft werden, aber die Genehmigungsverfahren dauern heute nicht mehr Monate, sondern Jahre. Allzu oft enden Projekte dann doch in der Schublade, wie die Umlaufbahn, die vor 20 Jahren in Planung war. Sie wird nie Realität werden, denn die Trassen dafür sind längst mit Straßen und Häusern zugebaut.

Seit kurzem wird nun endlich die zweite Stammstrecke für die chronisch überlastete S-Bahn in den Untergrund gebohrt. Sie soll nicht vor 2026 fertig sein - und sie werde kaum Abhilfe schaffen, sagen Kritiker. Sie werde nur noch schneller zusätzliche Fahrgäste in die Innenstadt befördern, die dort irgendwie umsteigen und weiterkommen müssen, was schon jetzt kaum noch geht. Ein Spezialproblem hat die Bayernmetropole nämlich: Weil es keine Ring-S-Bahn gibt wie in Berlin oder Hamburg, fahren alle Bahnen sternförmig ins Zentrum und fast alle durch den Marienplatz. Weil zudem viele Außenbezirke öffentlich schlecht angebunden sind, drängt es den Großteil der Bewohner und Firmen in die Innenstadt. Die Umlaufbahn hätte das vor Jahren noch verhindern können.

Ein anderes Grundproblem haben überdies alle Großstädte beim Ausbau ihrer Verkehrsnetze: Es fehlt das Geld. Mit dem Ticketverkauf allein decken sie die Kosten für den ÖPNV nicht. Fast alle schießen üppig aus der Stadtkasse Gelder hinzu; Verkehrsexperten beziffern den bundesweiten Sanierungsstau beim Personennahverkehr auf vier Milliarden Euro. Es gibt zwar Fördergelder von Bund und Ländern, doch darum konkurrieren viele Kommunen. Oft wird mit diesem Geld auch nur das Anlegen neuer Linien bezuschusst. Wachsende Städte, die ein ausgebautes Nahverkehrsnetz "nur" erweitern wollen, fallen oft durchs Förderraster. So lasse sich in vielen Metropolen ein Stillstand beim Ausbau des Schienennetzes außerhalb der Zentren beobachten, stellen Verkehrsplaner fest.

Dabei formulieren Forscher klar, was zu tun wäre: Mehr oberirdisch verlängern. Der Bau eines zusätzlichen Kilometers Tram- oder S-Bahn kostet 10 bis 20 Millionen Euro und bringt Entlastung, weil mehr Bürger in die Fläche ziehen. Jeder Kilometer Untergrundbahn kostet das Zehnfache. Außerdem könnten Expressbuslinien Abhilfe schaffen, bis die Schienen liegen, weil sie auf den bestehenden Straßen fahren. Städte sollten ihre Radwegenetze ausbauen und vor allem Elektrobikes einen Schub verpassen, findet Mobilitätsforscherin Jessica Le Bris von der Technischen Universität München. Der Großteil der zurückgelegten Wege in Städten läuft auf Kurzstrecken unter fünf Kilometern ab, wofür sich E-Bikes und Pedelecs bestens eignen.

Am besten wäre es den Forschern zufolge freilich, wenn die Städte aufhören würden mit dem Ein-Strecken-Denken. Wenn sie nicht nur einzelne Verkehrsmittel betrachten würden, sondern sich als "umfassende Mobilitätsprovider" verstehen, so nennt es der Internationale Verband für öffentliches Transportwesen. Dann nämlich würden sie nicht nur den ÖPNV voranbringen, sondern parallel dazu Alternativen für den Individualverkehr schaffen. Sie müssten mehr Radwege anlegen, Car- und Bikesharing fördern und E-Ladestationen errichten, um den motorisierten Innenstadtverkehr abgasärmer zu machen. So würden mehr Metropolenbewohner umsteigen und nicht bloß auf Bus und Bahn abfahren. Dann wäre vielleicht wieder irgendwann die Welt in Ordnung, morgens um sieben in München genauso wie im Rest des Landes.

Die Autorin ist freie Journalistin in München.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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