An Superlativen hat es kurz vor der Einweihung der neuen ICE-Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin -München Anfang Dezember nicht gefehlt. "Das Projekt hat historische Ausmaße", sagte etwa Bahnchef Richard Lutz. Es sei atemberaubend, was mit diesem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit geschaffen worden sei, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Premiere. Nach 26 Jahren Planen und Bauen kann man jetzt mit Tempo 300 in kaum vier Stunden die 623 Kilometer von der Spree an die Isar reisen. Kosten des Projekts zehn Milliarden Euro.
Doch kaum waren die letzten Partyreste weggeräumt, kam es zu mehreren Pannen mit erheblichen Verspätungen. Ein Supersprinter im Schneckentempo. "Technische Störungen", hieß es lapidar bei der Deutschen Bahn (DB). Im "neuen Zeitalter der Mobilität" will der Konzern dem Flugzeug und den Fernbussen die Kunden abjagen. Die optimistische Kampfansage des bundeseigenen Konzerns ist zugleich ein Beleg dafür, dass ein wesentliches Ziel der Bahnreform von 1994, eine deutliche Verlagerung von der Straße auf die Schiene, noch nicht erreicht wurde.
Umwandlung der Behördenbahn Als der Bundestag die Bahnreform beschloss, versprach die Politik einen schnelleren, pünktlicheren, saubereren und moderneren Schienenverkehr. Die Umwandlung der Behördenbahn in eine bundeseigene Aktiengesellschaft, bei gleichzeitiger Integration der ostdeutschen Reichsbahn, werde für mehr Wettbewerb und damit für ein attraktiveres Angebot sorgen, hieß es. Damit könne mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden. Gerade erst musste Lutz einräumen, dass es mit der avisierten Pünktlichkeitsquote von 80 Prozent der Züge 2017 nichts wird. "Mittelschwere Stürme" dürften den Bahnverkehr nicht zum Erliegen bringen, mahnt die Politik und verlangt eine bessere "Störfallvermeidung". Und auch billiger sollte die Bahn werden: Die Reform werde mittels einer Entschuldung des Unternehmens die öffentlichen Haushalte entlasten. Den nichtbundeseigenen Eisenbahnunternehmen (NE-Bahnen), also der Konkurrenz der Deutschen Bahn, wurde ein diskriminierungsfreier Zugang zum Schienennetz zugesagt. "Eine Technologie, die schon fast abgeschrieben war, die Eisenbahn, die soll jetzt wieder plötzlich ganz groß rauskommen", sagte Heinz Dürr, ihr erster Chef, über den schwierigen Weg zur Bahnreform. Um diese finanzieren zu können, wurde die Mineralölsteuer um sieben Pfennig erhöht. 23 Jahre später fällt die Bilanz verhalten aus.
Nach wie vor kann die Bahn das Geld zur Finanzierung der notwendigen Investitionen nicht erwirtschaften. Jedes Jahr überweist der Bund im Rahmen der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV) Milliardensummen, um die Bahn wettbewerbsfähig zu halten. Die Verkehrsminister der Länder haben kürzlich ein Förderprogramm des Bundes angeregt, das die Elektrifizierung des Streckennetzes bis 2025 von jetzt 60 auf 70 Prozent erhöht. Geklappt hat freilich, die Verantwortung für die Regionalstrecken in die Hand der Länder zu legen und den Wettbewerb anzukurbeln. Private Bahngesellschaften sind entstanden. Das Angebot verbesserte sich. In den vergangenen 20 Jahren hat die Bahn etwa 39 Prozent mehr Fahrgäste und 55 Prozent mehr Güter als vor der Bahnreform befördert. Gleichwohl macht der Frachtverkehr seit Jahren Verluste.
7.000 km stillgelegt Der Fahrgastverband Pro Bahn kritisiert, seit dem Inkrafttreten der Reform seien mehr als 7.000 Kilometer Eisenbahnstrecken stillgelegt worden. Bahnhöfe verfielen. Von ehemals 360.000 Mitarbeitern schrumpfte die Bahn in Deutschland um etwa die Hälfte. Am Ziel, die Bahn mittels Börsengang zu privatisieren, ist der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn gescheitert. Die Politik machte wegen der Finanzkrise 2008 einen Rückzieher. Sie hatte nämlich erkannt, dass es wesentlich auf die Zustimmung der Bahnkunden ankommt. Kommunikation und Service lassen jedoch noch zu wünschen übrig.
Die Neuerfindung der einstigen Behördenbahn bekam 2014 einen ersten Schub. Mit Fahrplan-Apps auf Smartphones, einer Flotte von Mietwagen und Leihfahrrädern sowie Milliardeninvestitionen in Schienen und neue Züge wirbt die Bahn seitdem um Fahrgäste. Gerade erst hat die DB den sogenannten Ideenzug vorgestellt, ein futuristisches Zugmodell. Da immer mehr Arbeitnehmer viel Zeit mit Pendeln verbringen, soll die Reisezeit zur Nutzzeit gemacht werden, durch Einzelkabinen, um ungestört vertrauliche Gespräche zu führen, durch Trimmräder oder virtuelle Supermärkte mit Produkten, die direkt nach Hause oder an den Bahnhof geliefert werden können. Die Schiene will ihre Kunden mit neuen Konzepten überzeugen.
Dazu gehört auch die Digitalisierung, gebündelt in der "Strategie Schiene Digital" des Konzerns. Zum digitalen Zeitalter gehöre kostenfreies WLAN in noch mehr Zügen und Bahnhöfen. 2019 soll "Mobility inside" an den Start gehen, eine Mobilitätsplattform, die eine unkomplizierte Planung, Buchung und Bezahlung bei unterschiedlichen Verkehrsverbünden ermöglichen soll. Ein vernetztes, also leistungsfähiges Gesamtangebot soll den öffentlichen Nah- und Fernverkehr für die Kunden attraktiver machen. Bis Ende 2018 sollen 90 Prozent der Dieselloks und Triebwagen mit einem neuen Telematiksystem ausgestattet werden. Von einer Digitalisierung der Betriebsabläufe verspricht sich die Bahn eine Verbesserung des Komforts und damit eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Mit "Flinkster" ist die Deutsche Bahn in die Carsharing-Branche eingestiegen, über "Call a bike" können Fahrräder der DB gemietet werden. Die Deutsche Bahn ist auf dem Weg von einem Eisenbahnunternehmen zu einem Mobilitätskonzern.
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