Herr Professor Schmitz, sind Sie eigentlich gut zu Fuß?
Das würde ich schon sagen. Wieso?
Immerhin sind Sie ja Spaziergangswissenschaftler an der Kunsthochschule Kassel...
Richtig, aber bei der Promenadologie steht das Spazierengehen gar nicht so sehr im Vordergrund. Es geht um jede Form der Mobilität, um Bewegung in jedem Sinne. Also auch um das Autofahren, Fliegen und Zugfahren. Spazierengehen ist aber die einfachste Form, wie man sich bewegen kann.
Die Spaziergangswissenschaften sind ein nicht allzu bekannter Wissenschaftszweig. Spötter sprechen auch von einem Orchideenfach...
...und andere reden von erfahrungsbasierter Planung, ich weiß. Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt hat Mitte der 1980er Jahre das Fach Spaziergangswissenschaft entwickelt und im Bereich der Architektur und Landschaftsplanung angesiedelt. Wenn wir heute feststellen, dass wir in einer Zeit nie dagewesener Mobilität leben, war damals der Ausgangspunkt dieser Entwicklung. Burckhardt hat einen Zusammenhang zwischen der gewachsenen Mobilität und der dadurch veränderten Wahrnehmung hergestellt. Beim Spazierengehen nehmen wir die Dinge wie Perlen an einer Schnur war, urteilte er. Durch die zunehmende Geschwindigkeit der Fortbewegung werden die Sequenzen größer und damit das Verständnis für die gebaute Umwelt abstrakter.
Und was will die Spaziergangswissenschaft daran ändern?
Die Spaziergangswissenschaft hat einen kritischen Blick als Weiterentwicklung der Urbanismuskritik. Sie sagt: Wir müssen wieder hinschauen. Viele Gestalter dieser Welt - Architekten oder auch Stadtplaner - waren nie an dem Ort, den sie planen. Architektur und Soziologie sind zu Schreibtischwissenschaften verkommen.
Hinschauen ist sicherlich eine richtige Forderung. Aber interessieren sich die Menschen heute nicht sehr viel mehr als in den 1980er Jahren für ihre Umwelt?
Das stimmt. Aber auch die mediale Beeinflussung - Werbung, TV und Internet - war noch nie so groß. Es passiert Folgendes: Wir bringen Vorstellungen mit, die oft nicht mit der Realität übereinstimmen. Essenz der Spaziergangswissenschaft ist: Wie wird das alles auf das Planen und Bauen rückwirken.
Ist die Promenadologie eigentlich auch für Verkehrsplaner interessant?
Aber sicher! Es gibt ja jetzt wieder Fahrradplanung und Fußgängerplanung, die lange vernachlässigt wurden, als es nur darum ging, Städte möglichst autogerecht auszubauen. Man kann auf der begrenzten Fläche einer Stadt nun einmal nicht viele Verkehrssysteme getrennt voneinander unterbringen. Hier muss neu gedacht werden. Wir sehen ja, dass das individuale Verkehrssystem an seine Grenzen kommt.
Die Zielrichtung der Politik ist aber nach wie vor: mehr Mobilität. Brauchen wir das?
Naja - es gibt nichts Schöneres, als andere Menschen an anderen Orten zu treffen.
Das führt aber zu Umweltverschmutzung und einer Verhetzung des Lebens...
Das hat sicher seinen Preis. Aber ich glaube, das Verkehrssystem, das für eine Entlastung bei gleichbleibender Mobilität sorgen kann, ist die Eisenbahn. Hier muss man etwas verbessern. Ich bin Bahnfahrer, aber die Art und Weise wie ich vom System des Öffentlichen Personennahverkehrs behandelt werde, ist nicht immer akzeptabel.
In Städten gibt es zumindest ÖPNV-Angebote. Auf dem Land ist es schwierig, in strukturschwachen, dünn besiedelten Gebieten einen funktionierenden ÖPNV-Verkehr anzubieten...
Warum?
Weil es zu teuer ist angesichts der eher geringen Zahl an Nutzern.
Also ich glaube, man müsste eine ganz große Rechnung aufmachen, was der Autoverkehr wirklich kostet. Es ist völlig falsch, die Entscheidung für oder gegen ÖPNV-Angebote an den Kosten auszurichten. Es ist eine Sozialleistung, deren Grenzen man im Einzelnen natürlich festlegen müsste. Man muss das meiner Meinung nach alles in einem großen gesellschaftlichen Rahmen sehen.
Wird das mit Blick auf die Zukunft gemacht?
Wenn es um die Zukunft geht, ist die Rede von Industrie 4.0, dem selbstfahrenden Auto oder Smart-City. Was verspricht man sich davon? Ich glaube nicht, dass das Autofahren dann völlig gefahrlos ist. Ich vermute zudem, dass eine Smart-City genau die gleichen Probleme mit sich bringt, die wir jetzt auch haben. Das sind Ergebnisse und Zielsetzung, die ich nicht im Zentrum eines Zukunftsentwurfes sehe. Ich zweifle das an und stelle mir gleichzeitig vor, dass es auch eine Gegenbewegung gibt.
Wie sieht die aus?
Wissen Sie, in der 1960er und 1970er Jahren ist man davon ausgegangen, dass zur Jahrtausendwende das Fahrrad als Fortbewegungsmittel nicht mehr relevant ist. Das genaue Gegenteil ist aber passiert. Auf diese Gegenbewegungen muss man sehr viel genauer schauen.
Das Interview führte Götz Hausding
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