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Koalitionsvertrag : Die Kommissionen kommen

Mehr Geld für Pflege, Sicherheit und Wohnungen. Dazu ein starkes Europa und begrenzte Zuwanderung

19.03.2018
2023-08-30T12:34:26.7200Z
8 Min

Als "Vertrag für die kleinen Leute, die Mitte unserer Gesellschaft" pries der CSU-Vorsitzende und künftige Super-Minister für Inneres, Bauen und Heimat, Horst Seehofer, den 175 Seiten starken Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Mit den Unterschriften der drei Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU), Seehofer und Olaf Scholz (SPD) unter den Vertrag wurde in der vergangenen Woche, ungewohnt verspätet, der eigentliche Startschuss für diese Legislaturperiode gegeben. "Es liegt viel Arbeit vor uns", betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Kritiker vorwerfen, die drängendsten Zukunftsfragen nicht entschlossen genug anzugehen. Viel vorgenommen haben sich CDU, CSU und SPD dennoch. Ein Überblick über die wichtigsten Vorhaben der Großen Koalition:

Finanzen Der Solidaritätszuschlag soll schrittweise wegfallen, beginnend 2021 mit einer Entlastung von 10 Milliarden Euro, die 90 Prozent der Zahler vom Zuschlag befreien soll. Vor allem untere und mittlere Einkommen sollen davon profitieren. Steuererhöhungen für die Bürger soll es nicht geben. Für den Haushalt gilt weiter das Ziel einer "schwarzen Null", also keiner neuen Schulden. Die Abgeltungsteuer auf Zinsen soll abgeschafft werden. Stattdessen soll für Zinserträge der persönliche Steuersatz gelten. Als eine Art Baulandsteuer ist eine neue "Grundsteuer C" anzusehen (siehe: Wohnen). Eine Umgehung der Grunderwerbsteuer durch Immobiliengesellschaften (Share Deals) soll unterbunden werden.

Digitalisierung Ein eigenes Digitalministerium wird es auch in dieser Legislaturperiode nicht geben. Statt dessen soll sich die CSU-Politikerin Dorothee Bär im Kanzleramt um das Schnittstellenthema kümmern und im Zusammenwirken mit ihren Fachkollegen aus verschiedenen Ministerien den digitalen Wandel erheblich beschleunigen. Grundlage für jegliche Vision bildet schnelles Internet - und zwar flächendeckend. Hier will die Bundesregierung aufholen. Bis 2025 soll jede Region und jede Gemeinde ans Glasfasernetz angeschlossen werden. Schulen, Krankenhäuser, Gewerbegebiete und soziale Einrichtungen in öffentlicher Hand sollen bereits in dieser Legislatur direkt ans Glasfasernetz angebunden werden, dafür soll ein Fonds von zehn bis zwölf Milliarden Euro sorgen. Im Internet sollen weiter alle Inhalte mit gleichem Tempo transportiert werden - die Netzneutralität bleibt. Zudem soll es unter anderem eine Daten-Ethikkommission geben. Ein digitales Bürgerportal soll Bürgern und Unternehmen alle Verwaltungsdienstleistungen elektronisch verfügbar machen. Bis 2025 soll sogar ein Rechtsanspruch auf schnelles Internet geschaffen werden.

Wohnen Bauen und Wohnen haben sich in der vergangenen Legislaturperiode zu einem öffentlichkeitswirksamen Thema entwickelt - entsprechend mehr Raum nehmen sie im Koalitionsvertrag ein. Als Ziel formulieren Union und SPD 1,5 Millionen Wohnungen und Eigenheime, die gebaut werden sollen - ohne allerdings eine zeitliche Frist dafür zu nennen. Auch über 2019 hinaus will der Bund Milliarden in den sozialen Wohnungsbau stecken. Über eine Reform der Grundsteuer (Grundsteuer C) soll zudem mehr Bauland schneller verfügbar gemacht werden. Mit einer Fortsetzung des "Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen" setzt die Politik weiter auf einen Schulterschluss mit der Wirtschaft, das Gremium soll weitere Reformen anstoßen und bei der Umsetzung begleiten. Die Mietpreisbremse für Ballungsräume soll nachgeschärft werden - mit einer Auskunftspflicht zur Vormiete. Ein "Baukindergeld" von 1.200 Euro pro Kind und Jahr über zehn Jahre soll es Familien bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze erleichtern, zu bauen oder zu kaufen.

Familie Das Kindergeld soll in zwei Schritten um 25 Euro pro Kind und Monat steigen, der Kinderfreibetrag steigt entsprechend. Erhöht werden soll auch der Kinderzuschlag für Einkommensschwache. Der quantitative und qualitative Ausbau der Kindertagesbetreuung bleibt weiter auf der Agenda, dafür will der Bund bis 2021 rund 3,5 Milliarden Euro investieren. Außerdem ist eine Entlastung der Eltern bei den Kitagebühren bis hin zur Gebührenfreiheit geplant - allerdings ohne konkretes Datum. Kinderrechte sollen eigens im Grundgesetz verankert werden, dazu soll eine Kommission bis Ende 2019 Vorschläge machen.

Bildung Durch eine Grundgesetzänderung (Lockerung des Kooperationsverbotes) soll der Bund mehr Geld in die Schulen stecken können. Zwei Milliarden Euro sind zum Ausbau von Ganztagsschulen und -betreuung geplant. Grundschüler sollen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung bekommen. Außerdem geplant sind eine Milliarde Euro für eine Bafög-Reform, 600 Millionen Euro zur besseren Ausstattung von Unis und fünf Milliarden Euro für den "Digitalpakt" für Schulen.

Arbeitsmarkt Befristete Jobs sollen eingedämmt werden. Arbeitgeber mit mehr als 75 Beschäftigten sollen nur noch 2,5 Prozent der Belegschaft sachgrundlos befristet anstellen dürfen, Kettenbefristungen verboten werden. Das zunächst gescheiterte Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit soll kommen - für Firmen ab 45 Mitarbeitern. Bei 45 bis 200 Mitarbeitern soll dieser Anspruch nur einem pro 15 Mitarbeitern gewährt werden müssen. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung soll um 0,3 Prozentpunkte sinken. Langzeitarbeitslose sollen bezuschusste Jobs bekommen. Ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll den Zuzug ordnen und steuern.

Rente Bis 2025 sollen das Rentenniveau (das Verhältnis der Rente zum Lohn) nicht unter 48 Prozent fallen und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen. Über die Zeit danach soll bis März 2020 eine Rentenkommission nachdenken. Müttern, die vor 1992 drei oder mehr Kinder geboren haben, soll auch das dritte Jahr Erziehungszeit angerechnet werden.

Wer Jahrzehnte gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt hat, soll nach 35 Beitragsjahren eine Grundrente zehn Prozent über der Grundsicherung erhalten. Selbstständige sollen zur Altersvorsorge verpflichtet werden. Wer neu wegen Krankheit frühzeitig Erwerbsminderungsrente bekommt, soll behandelt werden, als wenn er bis zum aktuellen Renteneintrittsalter gearbeitet hat.

Gesundheit Eine Kommission soll Vorschläge für ein neues Honorarsystem für Kassenpatienten und Privatversicherte machen. Ärzte sollen zudem 25 statt 20 Stunden pro Woche für Kassenpatienten da sein müssen. Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sollen ab 2019 wieder zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bezahlt werden - bisher zahlen letztere etwas mehr. Die Koalition will außerdem den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten verbieten.

Pflege 8.000 neue Fachkräfte sofort und eine konzertierte Aktion unter anderem mit einer Ausbildungsoffensive und Anreizen für mehr Vollzeit sollen die Personalsituation entspannen. Geplant sind zudem einfachere Möglichkeiten für vorübergehende Aus- und Erholungszeiten für Angehörige. Eine bessere, gleichmäßigere Bezahlung soll es durch flächendeckende Tarifverträge und eine Angleichung des Pflegemindestlohns in Ost und West geben. In Krankenhäusern sollen Personaluntergrenzen für alle bettenführenden Abteilungen eingeführt werden. Auf das Einkommen der Kinder pflegebedürftiger Eltern soll künftig erst ab einem Einkommen in Höhe von 100.000 Euro im Jahr zurückgegriffen werden.

Innere Sicherheit Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern sollen je 7.500 zusätzliche Stellen bekommen, die Justiz mindestens 2.000 neue Stellen. Für den Umgang mit Terrorgefährdern sollen bundesweit einheitliche Standards kommen. Die Videoüberwachung soll verhältnismäßig und mit Augenmaß ausgebaut werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) soll im Bereich der zentralen Auswertung und Analyse in Bezug auf islamistischen Terrorismus und länderübergreifenden Extremismusphänomenen von bundesweiter Bedeutung eine stärkere Steuerungsfunktion übernehmen. Außerdem wollen die Koalitionäre die Befugnisse des Verfassungsschutzes des Bundes und der Länder vereinheitlichen.

Zuwanderung Union und SPD bekennen sich ausdrücklich zum Grundrecht auf Asyl, das folglich nicht angetastet werden soll. Gleichzeitig machen sie klar, dass sich eine "Situation wie 2015" nicht wiederholen soll. Asylverfahren sollen in zentralen "Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen" stattfinden. Zwar ist nicht direkt von einer "Obergrenze" die Rede, doch sollen die jährlichen Zuwanderungszahlen die Spanne von 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen.

Der Nachzug der Kernfamilie von Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutz, etwa aus Syrien, bleibt bis 31. Juli ausgesetzt. Für die Zeit danach ist geplant: Ab August dürfen auch subsidiär Schutzberechtigte wieder Angehörige nach Deutschland nachholen. Der Familiennachzug wird dabei aber auf 1.000 Menschen pro Monat begrenzt. Hinzu kommt eine bereits bestehende Härtefallregelung.

Um die Zuwanderung von Fachkräften zu erleichtern soll ein "neues Regelwerk" geschaffen werden, "das sich am Bedarf unserer Volkswirtschaft" orientiert.

Umwelt Die Koalitionäre rücken vom Klimaziel 2020 ab, ohne es gänzlich aufzugeben. Die Rede ist statt dessen von einem Klimaschutzgesetz, das sektorübergreifend auf das Klimaschutzziel 2030 ausgerichtet werden soll. Eine Kommission soll bis Ende 2018 ein Aktionsprogramm zum Klimaschutz erarbeiten. Jeder Bereich, auch Verkehr und Landwirtschaft, muss künftig eigene Klimaziele erreichen. Außerdem soll ein Plan zur schrittweisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung vorgelegt werden.

Für bessere Luft in Städten prüfen Union und SPD Nachrüstungen bei älteren Diesel-Fahrzeugen direkt am Motor, denn Fahrverbote wegen Luftverschmutzung in Städten will die Große Koalition vermeiden. Kommunen sollen für Luftreinhaltung und Verkehrsprojekte mehr Geld bekommen. Außerdem wollen Union und SPD die Elektromobilität stärker fördern und in den Aufbau einer flächendeckenden Lade- und Tankinfrastruktur für Elektroautos investieren.

Verkehr Mit einem "Schienenpakt" von Politik und Wirtschaft sollen bis 2030 doppelt so viele Fahrgäste gewonnen und mehr Güter in Zügen transportiert werden. Die bundeseigene Bahn soll verpflichtet werden, dass nicht die Maximierung des Gewinns, sondern des Verkehrs zählt.

Landwirtschaft Verbraucher sollen Fleisch aus besserer Haltung an einem staatlichen Tierwohllabel erkennen können. Mit dem umstrittenen Massentöten männlicher Küken soll bis Ende 2019 Schluss sein. Dazu soll die Verbreitung des Wolfs eingedämmt werden. Die Nutzung des umstrittenen Unkrautgifts Glyphosat wollen Union und SPD so bald wie möglich beenden, ohne ein konkretes Datum dafür zu nennen.

Verbraucherschutz Für Fälle mit vielen Betroffenen wie beim Dieselskandal soll eine Musterfeststellungsklage spätestens ab November 2018 möglich werden. Bei Buchungs- und Vergleichsplattformen im Internet soll mehr Transparenz etwa über die Gewichtung von Ergebnissen und mögliche Provisionen geschaffen werden.

Verteidigung Rüstungsexporte sollen weiter eingeschränkt, Kleinwaffen grundsätzlich nicht in Drittländer exportiert werden. Die Bundeswehrtruppen in Afghanistan und Mali sollen aufgestockt, die militärische Beteiligung am Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat soll dagegen eingeschränkt werden. Durch einen höheren Verteidigungsetat soll für "mehr Personal, beste Ausbildung und moderne Ausstattung bei der Bundeswehr" gesorgt werden. Geplant ist außerdem ein Ausbau der europäischen Verteidigungsunion mit PESCO, einem europäischen Verteidigungsfonds und weiteren Schritten auf dem Weg zur "Armee der Europäer". Zum Zwei-Prozent-Rüstungsziel der Nato bekennt sich der Koalitionsvertrag indirekt, man werde "dem Zielkorridor der Vereinbarungen in der Nato nachkommen", heißt es. Die Bedeutung des transatlantischen Bündnisses mit den USA wird explizit hervorgehoben, man wolle es weiter festigen, so das Ziel von Union und SPD.

Europa "Europa nutzt heute sein politisches und wirtschaftliches Potenzial zu wenig und mit zu geringem Selbstbewusstsein. Wir brauchen eine neue Kultur der Verantwortung, die die Glaubwürdigkeit Europas als Partner in der westlichen Welt erhöht und unsere Position gegenüber aufstrebenden Mächten stärkt." So beschreibt die Koalition ihr Verständnis von der künftigen Rolle Europas. Deutschland soll sich demnach, gemeinsam mit Frankreich, stärker in die Debatte für eine Strukturreform der Eurozone und deren wirtschaftliche Stabilisierung einbringen. Ziel ist unter anderem ein "Investivhaushalt" für die Euro-Zone und die Umwandlung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen Europäischen Währungsfonds, mit dem Mitgliedsländer in finanzieller Notlage unterstützt werden sollen. Zudem wird eine "solidarische Verantwortungsteilung in der EU" in der Flüchtlingspolitik angestrebt. Generell gilt: "Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit."

Die EU-Sanktionen gegenüber Russland sollen erst aufgehoben werden, wenn das Minsker Abkommen vollständig umgesetzt ist. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollen wegen der dortigen Situation in punkto Rechtsstaatlichkeit auf Eis gelegt werden, ebenso eine Visa-Liberalisierung und Zollunion.

Außenpolitik Die "enormen Herausforderungen" verlangen "eine entschlossene und substanzielle Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik aus einem Guss", heißt es im Koalitionsvertrag. Deshalb sollen die Etats für Verteidigung und Entwicklungszusammenarbeit künftig in gleichem Maß steigen. Neben einer "deutlichen" Erhöhung der Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und zivile Krisenprävention, bekennt sich die Koalition zu einer "fairen Handelspolitik". So soll unter anderem das umstrittene Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit den afrikanischen Staaten (EPAs) überprüft werden.