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ABÜSTUNGSBERICHt : Ende der Dividende

Drei Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg wachsen wieder die Waffenetats und damit die globalen Risiken

23.04.2018
2023-08-30T12:34:27.7200Z
8 Min

Die atomare Aufrüstung Nordkoreas, der Einsatz von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg, Vertrauensverluste im transatlantischen und im europäischen Sicherheitsumfeld: Für die Bundesregierung war 2017 ein Jahr "gewaltiger und zum Teil gewaltsamer Belastungsproben für Rüstungskontrolle und Abrüstung", wie sie in ihrem jüngst vorgelegten Jahresabrüstungsbericht (19/1380) schreibt. "An die Stelle der ersehnten Abrüstungsdividende ist 27 Jahre nach Ende des Kalten Krieges längst eine weltweite Zunahme an Rüstung getreten, die sich laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI auch im Anstieg der weltweiten Rüstungsausgaben 2016 auf 1.690 Milliarden US-Dollar widerspiegelt."

Atomwaffen Das aggressive Nuklearstreben Nordkoreas ist sicherlich eine der größten Herausforderungen, stellt das Land doch mit dem 1970 in Kraft getretenen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) und den Atomwaffentestverbotsertrag aus dem Jahre 1996 die wichtigsten Fundamente zur Begrenzung und zur Abrüstung von Atomwaffen auf die Probe. Um es anders zu sagen: Pjöngjang, das 2003 seinen Rückzug vom wichtigen NVV-Vertrag erklärt hat, schert sich mit immer neuen unterirdischen Nuklearwaffen und oberirdischen ballistischen Reichweitentests bisher nicht um eine ganze Kaskade von (einstimmig beschlossenen) US-Sicherheitsresolutionen, die das Land auffordern, sein Atomwaffenprogramm "vollständig, überprüfbar und unumkehrbar" aufzugeben. Auch zahlreiche Dialogangebote habe das Land zumindest noch im Jahr 2017 ausgeschlagen, darunter eines unter den Bedingungen der "vier Neins" des damaligen US-Außenministers Rex Tillersons (kein Regimeumsturz, kein Kollaps, keinen beschleunigte Wiedervereinigung der beiden Koreas von außen, keine militärische Intervention).

Die Bundesregierung sieht in Nordkoreas Atommachtstreben nicht nur eine regionale Bedrohung, sondern auch eine internationale: Wenn sich schon Nordkorea nicht abschrecken lässt, warum sollten sich dann der Iran und in der Folge zum Beispiel der rivalisierende Nachbar Saudi-Arabien daran gebunden fühlen, keine Atomwaffen zu entwickeln? Gerade die Verhinderung einer solchen weiteren atomaren Rüstungsspirale war und ist aus Sicht der Bundesregierung das Ziel das Atomabkommens von Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Russland, China und den USA sowie der EU mit dem Iran, das sich auf die Kernformel regelmäßiger Inspektionen in iranischen Nuklearanlagen gegen die Aufhebung einer Reihe von Sanktionen bringen lässt: Seit 2015 stellt das Abkommen mit dem "weltweit engmaschigste Verifikations- und Kontrollregime" der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) sicher, dass Irans Atomprogramm nachprüfbar ausschließlich zivilen Zwecken dient, schreibt die Bundesregierung. Sie muss im gleichen Atemzug aber auch darauf verweisen, dass US-Präsident Donald Trump angekündigt habe, die Teilnahme an diesem Abkommen für die US-Seite "auf den Prüfstand" zu stellen. Dahinter steht die unter anderem von Israel geäußerte Sorge, dass der Iran hinterrücks doch weiter an einem Atomwaffenprogramm arbeite und die Welt mit dem Abkommen nur in falscher Sicherheit wiege.

Auch in Europa ist nach Lage der Dinge die atomare Bedrohung drei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges wieder auf der Tagesordnung: So hat Russland angekündigt, den New-START-Vertrag mit den USA zur Verkleinerung strategischer Atomwaffenpotentiale nicht zu verlängern, für den Fall, dass Washington mit einem in Ost- und Mitteleuropa installierten Raketenabwehrsystem die "Wirksamkeit der strategischen Nuklearkräfte Russlands wesentlich" verringern sollte. Ungemach droht auch bei dem für Europa so wichtigen INF-Vertrag, mit dem sich die USA und Russland 1987 eigentlich auf die Abschaffung nuklear bestückbaren Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern verpflichtet hatten. Die USA wirft Russland vor, mit einem neu entwickelten Marschflugkörper (SSC-8) gegen das Abkommen zu verstoßen, Russland sieht wiederum im US-Raketenabwehrsystem in Europa eine Verletzung des INF-Vertrages. Die Bundesregierung dringt darauf, dass beide Seiten sich einigen. Sie appelliert dabei insbesondere an Russland, "schwerwiegende Zweifel an seiner Vertragstreue verifizierbar auszuräumen".

In einem weiteren Punkt lässt die Bundesregierung keinen Zweifel: Der 2017 von mehr als 120 Staaten im Rahmen der Vereinten Nationen beschlossene Atomwaffenverbotsvertrag sei nicht das richtige Instrument auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Denn: Mit Blick auf Überprüfungsmechanismen falle dieses Abkommen deutlich hinter die hohen Standards des NVV-Vertrages und des "Wächters" IAEO zurück und das würde das bestehende globale Nonproliferations- und Abrüstungsregime gefährden. "Nukleare Abrüstung und das Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen können und dürfen zudem nicht losgelöst von der sicherheitspolitischen Realität sowie den bündnispolitischen Verpflichtungen Deutschlands im Rahmen der Nato, zu denen die Bundesregierung uneingeschränkt steht, betrachtet werden", heißt es im Abrüstungsbericht. Konkret bedeutet das, dass die Bundesregierung weiter an der atomaren Teilhabe der Nato als Pfeiler der deutschen Sicherheitspolitik und damit an den in Deutschland stationierten taktischen US-Atomwaffen festhält, deren geplante technische Erneuerung von Abrüstungsgegnern als Modernisierung oder bereits als heimliche Aufrüstung kritisiert wird. Denn die neuen B-61-4-Bomben, die im rheinland-pfälzischen Büschel lagern werden, seien besser lenkbar, zielgenauer, ihre Sprengkraft sei je nach Verwendung dosierbar von der fast dreieinhalbfachen Dimension der Hiroshima-Bombe bis hin zu weniger als einer Kilotonne. Dies passe wiederum in die Nuklearstrategie der US-Regierung, die seit Amtsantritt von Donald Trump ausdrücklich wieder auf schwächere Atomwaffen ("Mini-Nukes") setze, was die Wahrscheinlichkeit für deren tatsächlichen Einsatz erhöhe.

Chemiewaffen Nicht erst der Giftanschlag auf den früheren russischen und späteren britischen Spion Sergej Skripal wirft ein Schlaglicht darauf, dass die Welt trotz Ächtung durch das "Chemiewaffen-Übereinkommen" (CWÜ) von 1997 nicht frei von diesen tückischen Waffen ist: 2017 machte der tödliche Anschlag auf einen Halbbruder des nordkoreanischen Diktators Kim Jon Uns am Flughafen in Kuala Lumpur mit dem hochgiftigen Nervengift VX Schlagzeilen. Zwar sind dank CWÜ und der "Wächterin" über dieses Abkommen, der 2013 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten "Organisation für das Verbot chemischer Waffen" (OVCW), zumindest die weltweit deklarierten Chemie-Waffenbestände weitestgehend vernichtet. Sorge bereitet aber, wenn es trotzdem wie in Syrien zu Giftgaseinsätzen mit Chlorgas und in Einzelfällen mit Sarin und Senfgas kommt, und zwar unabhängig davon, ob solche Verbrechen durch nichtstaatliche Akteure wie den "Islamischen Staat" oder durch das von einer Reihe westliche Staaten beschuldigte syrische Regime begangen werden. Die Bundesregierung verweist in ihrem Bericht darauf, dass die OVCW-Untersuchungskommissionen "Fact Finding Mission" sowie "Joint Investigative Mechanism (JIM)" den Einsatz von Sarin in dem syrischen Stadt Khan Shaykhun im April 2017 bestätigt habe. Die Ermittlungen des JIM hätten ergeben, dass das Sarin mittels einer Fliegerbombe eingesetzt wurde und syrische Regierungstruppen für diesen Einsatz verantwortlich seien. Im gleichen Bericht habe der JIM die Terrororganisation IS für den Einsatz von Senfgas im September 2016 in Um-Housh verantwortlich gemacht: "Der JIM hat Syrien also mehrfach schwerwiegende Verstöße gegen das CWÜ nachgewiesen. Trotz dieser Ermittlungsergebnisse scheiterte im VN-Sicherheitsrat Anfang 2017 eine Sanktionsresolution gegen Syrien an den Vetos Chinas und Russlands", schreibt die Bundesregierung. Russland habe außerdem im November 2017 eine Resolution zur weiteren Verlängerung des JIM-Mandats mit einem Veto zu Fall gebracht.

Konventionelle Waffen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung auch bei der konventionellen Rüstungskontrolle im Raum der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE): In Europa bröckele der Konsens über die bestehenden abrüstungs- und rüstungskontroll-politischen Verträge nicht erst seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und seit dem Konflikt in der Ostukraine, die das europäische Sicherheitsumfeld erheblich verändert hätten. "Bestehende Rüstungskontrollinstrumente bedürfen der Anpassung an ein verändertes sicherheitspolitisches Umfeld und veränderte Bedrohungen, sie entsprechen teilweise nicht mehr dem Stand der militärischen und technologischen Entwicklungen und sie werden nicht vollständig umgesetzt. Transparenz, Berechenbarkeit und Stabilität in Europa leiden darunter, das Risiko militärischer Fehleinschätzungen und Eskalationsschritte steigt", heißt es im Abrüstungsbericht.

Nach eigenen Bekunden hat die Bundesregierung seit 2016, als sie den Vorsitz der (OSZE) übernommen hatte, einiges für gegenseitige Vertrauensbildung getan. Im Fokus stand dabei Initiative für einen "Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle", mit dem Ziel, Vertrauen, Transparenz, Vorhersehbarkeit und strategische Zurückhaltung wiederherzustellen. Außerdem wurde auf deutsche Initiative ein "strukturierter Dialog" ins Leben gerufen, bei dem sich die OSZE-Mitglieder regelmäßig über Bedrohungswahrnehmungen, militärische Übungen und Rüstungskontrollmechanismen austauschen.

Der Vertrag über den Offenen Himmel, seit 2002 unter 34 OSZE-Staaten in Kraft, erlaubt gegenseitige Beobachtungsflüge "von Vancouver bis Wladiwostok". Er sei "integraler Bestandteil der kooperativen Rüstungskontrolle im euro-atlantischen Raum" und diene noch vor dem eigentlichen wechselseitigen militärischen Erkenntnisgewinnen zunächst einmal der Stärkung von Vertrauen. Für ebenso unverzichtbar hält die Bundesregierung das "Wiener Dokument", das den Informationsaustausch zu Streitkräften, Hauptwaffensystemen und Manövern sowie wechselseitige Inspektionen regelt. Allerdings sei es nicht mehr auf der Höhe der Zeit, weil es "lange nicht mehr substanziell (zuletzt 2011 nur geringfügige Anpassungen) an politische, militärische und technologische Entwicklung angepasst wurde".

Was damit gemeint ist, deutet der Abrüstungsbericht mit dem Hinweis auf die Ost- ukraine, die Krim, Abchasien, Südossetien, Transnistrien und Bergkarabach an - Konfliktregionen und Gebiete mit umstrittenen völkerrechtlichen Status, in denen wegen fehlender Informationen und Zugangsmöglichkeiten kaum oder keine Verifikationen nach den "Wiener Dokumenten" durchgeführt werden können.

Die OSZE-Regeln wurden unter den Bedingungen des Kalten Krieges und einer bipolaren Welt entwickelt, noch fehlten angemessene Regeln für sensible Grenz- und Konfliktzonen wie auch für Krisengebiete, deren territorialer Status umstritten ist. Außerdem seien "grundlegende militärisch-technologische Entwicklungen wie die erhöhte Mobilität und raschere Verlegbarkeit von Truppen und Gerät sowie andere Fähigkeiten moderner Streitkräfte sind bisher nicht berücksichtigt", heißt es im Bericht weiter.

Die dritte wesentlichen Säule der OSZE-Sicherheitsarchitektur, der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), wurde 2007 von russischer Seite suspendiert - die Bundesregierung will sich jedoch weiterhin dafür einsetzen, diesen umzusetzen. Der Vertrag sieht eine Obergrenze für schwere Waffensysteme und ein System von Informationspflichten und Inspektionsrechten vor. Ziel sei es, ein "Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte auf niedrigerem Niveau zu schaffen und damit die Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zur Einleitung großangelegter Offensivhandlungen in Europa zu beseitigen".

Leichte Waffen Eine häufig vollkommen unterschätzte Gefahr für die internationale Friedenordnung sieht die Bundesregierung zudem in Kleinwaffen: "Kleinwaffen und Leichte Waffen verursachten in den letzten Jahrzehnten mehr Opfer als jede andere Waffenart." Sie könnten Konflikte verschärfen, die Sicherheit gefährden und zur Destabilisierung von fragilen Gesellschaften und Staaten führen. Nach eigener Auskunft legt die Bundesregierung seit 2015 besonders strenge Maßstäbe an die Erteilung von Exportgenehmigungen für diese Waffen an.

Außerdem verweist sie auf die Finanzierung regionaler Programme zu besseren Kontrolle von Kleinwaffen etwa auf den Balkan, in der Ukraine in der Westafrikaregion oder auch in Kolumbien, wo deutsche Experten die Waffen ehemaliger "FARC"-Rebellen unbrauchbar gemacht haben.

Bei allen Bemühungen der Bundesregierung haben es ihre Kritiker in einem Punkt argumentativ recht leicht: Als eines der größten waffenexportierenden Länder der Welt ist Deutschland eben auch Profiteur eines von der Bundesregierung mit Sorge betrachteten neuen Rüstungswettlaufs. Die Grünen-Abgeordnete Katja Keul fasst diesen Umstand in der Debatte zum Abrüstungsbericht in der vergangenen Woche an die Bundesregierung adressiert so zusammen: "Dass wir seit Jahren mehr Kriegswaffen an Drittstaaten als an Bündnispartner liefern, widerspricht Ihren eigenen Grundsätzen und gefährdet zunehmend deutsche Sicherheitsinteressen."