Piwik Webtracking Image

ASYL : Entscheidungen im Akkord

Die Bamf-Affäre legt auch die enormen Herausforderungen des Amtes bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise offen

11.06.2018
2023-08-30T12:34:29.7200Z
7 Min

Widerlegt die Bamf-Affäre Angela Merkels "Wir schaffen das" vom Sommer 2015? Um diese Frage geht es in letzter Konsequenz, wenn sich der Bundestag derzeit um die Aufklärung erheblicher Unregelmäßigkeiten im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bemüht. Dahinter steht die Frage, ob die Überforderung staatlicher Instanzen angesichts des Zustroms hunderttausender Flüchtlinge und Migranten unvermeidlich war, wie man es insbesondere in der AfD sieht, oder ob es sich um vermeidbare organisatorische Mängel handelte und wenn ja, wer dafür Verantwortung trägt. Letzteres ist ebenfalls von erheblicher politischer Brisanz, weil es dabei auch darum geht, ob Druck "von ganz oben" dazu geführt hat, dass bei der Bearbeitung von Asylanträgen Schnelligkeit vor Gründlichkeit ging.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Hauptsitz in Nürnberg wurde 1953 als "Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge" gegründet, 1965 wurde ein "Bundesamt" daraus. Mit dem 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz bekam die Bundesoberbehörde ihren heutigen Namen und neue Aufgaben, insbesondere im Bereich der Integrationsförderung. Geblieben ist die Besonderheit, dass der Arbeitsanfall starken Schwankungen unterliegt. So waren Flüchtlingswellen nach dem "Prager Frühling" 1968, in Folge von Spannungen in der Türkei in den 1970er Jahren sowie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens in den 1990er Jahren zu bewältigen.

Dramatische Lage Die Situation im Sommer 2015 allerdings stellte alles Dagewesene in den Schatten. Aus den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens machten sich Tag für Tag Tausende auf den Weg nach Europa, nachdem das Flüchtlingshilfwerk der Vereinten Nationen aus Geldmangel die Essensrationen hatte kürzen müssen. Dramatische Bilder von in Ungarn gestrandeten Flüchtlingen veranlassten die Bundesregierung schließlich, das in der EU geltende Dubliner Rückführungsabkommen auszusetzen und diesen Menschen pauschal die Aufnahme in Deutschland zuzugestehen. Die Nachricht verbreitete sich blitzschnell um die Welt, und immer mehr Menschen, zunehmend auch aus anderen Herkunftsländern, folgten nach.

Was das für das Bamf bedeutete, darauf gibt die Zahl der Entscheidungen über Asylanträge einen Hinweis. War sie zwischen 2011 und 2014 bereits von 43.362 auf 128.911 gestiegen, so schnellte sie bis 2016 auf 695.733 in die Höhe, mehr als das Fünffache. Möglich wurde dies überhaupt nur durch einen schnellen Aufwuchs des Personals. Pensionierte Beamte aus unterschiedlichen Behörden, Bundeswehrsoldaten und Arbeitslose wurden nach Schnellkursen mit Asylverfahren betraut. Mangels qualifizierter Dolmetscher und Übersetzer für die Muttersprachen der Bewerber fungierten auch Menschen mit bescheidenen Sprachkenntnissen als Dolmetscher. Die naheliegende Vermutung, dass diese enorme Steigerung der Asylentscheidungen auf Kosten der Sorgfalt ging, scheint sich nun im Verlauf der Bamf-Affäre immer mehr zu bestätigen.

Auslöser dieser Affäre waren strafrechtliche Ermittlungen gegen die ehemalige Leiterin der Bremer Außenstelle des Bundesamts, Ulrike B.. Sie und weitere Beschuldigte in ihrem Umfeld sollen in mindestens 1.200 Fällen Asylbescheide manipuliert haben. Unter anderem sollen Dokumente nicht geprüft und Fingerabdrücke nicht genommen worden sein. In den meisten Fällen sei die Außenstelle Bremen gar nicht zuständig gewesen. Vielmehr hätten die Beschuldigten aussichtslose Anträge aus dem Bereich anderer Außenstellen an sich gezogen und positiv entschieden. Rechtsanwälte, gegen die ebenfalls ermittelt wird, hätten daran mitgewirkt. Am 20. April dieses Jahres durchsuchte die Staatsanwaltschaft die Privatwohnung von Ulrike B. wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit und bandenmäßige Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragsstellung.

Von da an brachten die Medien fast täglich neue Details ans Licht. So waren laut Spiegel-Online bereits 2014 und 2015 Beschwerden über Ulrike B. in der Nürnberger Zentrale des Bamf eingegangen, weil sie Irakern widerrechtlich ein Bleiberecht verschafft habe. Im Sommer 2016 sei der damalige Bamf-Präsident Frank-Jürgen Weise über Missstände in Bremen informiert worden, berichteten unter anderem die Nürnberger Nachrichten. Auf eine Mail eines niedersächsischen Regionalleiters habe ein Mitarbeiter Weises geantwortet, der Sachverhalt verlange "tiefergehende Untersuchungen, die bereits eingeleitet wurden". Anfang 2017 wurde Jutta Cordt Präsidentin der Behörde. Nach weiteren drängenden Hinweisen, darunter im Juni vergangenen Jahres von einem leitenden Beamten der Bremer Außenstelle, erstattete die Amtsleitung im November 2017 Strafanzeige gegen Ulrike B..

Im Januar 2018 wurde Josefa Schmid kommissarisch mit der Leitung der Bremer Außenstelle betraut. Diese schickte im April einen Bericht ans Bundesinnenministerium, in dem sie von mehr als 3.000 unzulässigerweise in Bremen bearbeiteten Asylanträgen schrieb. Dabei äußerte sie den Verdacht, dass die Leitung des Bamf in den Fall verwickelt sein könne, da sie über Jahre nicht auf Hinweise von Mitarbeitern reagiert habe. Schmid, die im niederbayerischen Kollnbach ehrenamtliche Bürgermeisterin ist und für die FDP zum bayerischen Landtag kandidiert, wurde daraufhin am 8. Mai nach Deggendorf zurückversetzt. Amtschefin Cordt warf Schmid in einer Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses am 29. Mai Teilnehmern zufolge vor, sich nicht an vorgesehene Kommunikationswege gehalten zu haben. In einer Antwort auf Fragen, welche die Abgeordnete Luise Amtsberg (Grüne) im Vorfeld dieser Sitzung gestellt hatte, wies das Bundesinnenministerium darauf hin, dass Schmid in einem Personalgespräch am 28. Februar "ausdrücklich auf die laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hingewiesen" sowie mehrfach aufgefordert worden sei, ihr "bekanntgewordene Sachverhalte" ausschließlich über das Justiziariat des Amtes der Staatsanwaltschaft zugänglich zu machen.

In seiner Antwort geht das Innenministerium auch auf die Folgen einer vom Bamf veranlassten Prüfung von 18.000 in Bremen erteilten Asylbescheiden ein. Da dafür rund 70 Mitarbeiter für etwa drei Monate abgestellt würden, bestehe das Risiko, dass der Bestand an offenen Asylverfahren von 50.000 auf 80.000 anwächst. "Die Zielgröße der Bearbeitungsdauer für neue Asylverfahren seit dem Jahresbeginn 2017 von 3,0 Monaten kann dann nicht gehalten werden", schreibt das Ministerium.

Zum Zeitpunkt dieser Sondersitzung, auf der neben Cordt auch Bundesinnenminister Horst Seehofer und sein Parlamentarischer Staatssekretär Stephan Mayer (beide CSU) befragt wurden, hatte die Bamf-Affäre längst über Bremen hinaus die ganze Behörde erfasst. Dies veranlasste den Gesamtbetriebsrat, in einem am 28. Mai veröffentlichten Brief an Cordt die Belegschaft gegen "die berechtigte Kritik der Öffentlichkeit an der Arbeit des Bundesamtes" in Schutz zu nehmen. Seit Frank-Jürgen Weise die Amtsleitung übernommen habe, sei dem Ziel einer großen Zahl erledigter Asylanträge "die Qualität vollständig untergeordnet" worden.

Offener Brief Weise, der sich als Chef der Bundesagentur für Arbeit den Ruf als erfolgreicher Modernisierer einer Großbehörde erworben hatte, war am 18. September 2015 zusätzlich mit der Leitung des Bamf betraut worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich schon eine Viertelmillion unbearbeiteter Asylanträge aufgestaut. Bereits am 11. November desselben Jahres richteten der Gesamtpersonalrat und der Örtliche Personalrat des Bamf einen offenen Brief an Weise, aus dem die Fraktion Die Linke in einer Kleinen Anfrage (18/6825) zitierte. Demnach beklagten die Beschäftigtenvertreter Mängel, "die mit rechtsstaatlichen Verfahren nicht vereinbar seien, insbesondere in Bezug auf bestimmte Asylsuchende und bei der Einarbeitung und Qualifikation" neuer Mitarbeiter. In ihrer Antwort (18/7015) schrieb die Bundesregierung, es sei nicht verwunderlich, dass es in solchen Umbruchphasen Sorgen in der Belegschaft gibt. "Die Leitung des Bamf teilt die Auffassung des Personalrates, dass Fragen der Qualitätssicherung und der Sicherheit zentrale Pfeiler der Arbeit des Bamf sind, und weist Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Verfahren zurück", heißt es in der Antwort weiter.

Allerdings bekamen diese Zweifel in der Folgezeit immer wieder neue Nahrung. Ein besonders eklatanter Fall war der des mutmaßlich rechtsextremen Bundeswehrsoldaten Franco A.. Dieser hatte sich erfolgreich unter falschem Namen als syrischer Flüchtling ausgegeben und einen Schutzstatus erhalten, obwohl er kein Arabisch sprach. Er wurde im April 2017 unter dem Verdacht festgenommen, einen Terroranschlag geplant zu haben, der einem fiktiven Flüchtling angelastet werden sollte. In seinem offenen Brief vom Mai dieses Jahres spricht der Personalrat des Bamf von "Hunderttausenden von Verfahren, in denen mutmaßlich die Identität nicht belegt wurde". Die Möglichkeit, diese Fälle "in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu überprüfen", werde aber "aktuell mittels Dienstanweisung verhindert". Diese besage, dass anerkannte Flüchtlinge lediglich zu einem freiwilligen Gespräch geladen werden sollen, und "wer zweimal dem Gesprächsangebot nicht nachkommt, bekommt einen positiven Vermerk".

Das Bamf hat indes damit begonnen, alle Außenstellen und Ankunftszentren zu überprüfen, in denen die Schutzquote 2017 deutlich vom Durchschnitt abwich, also ungewöhnlich viele Asylanträge positiv oder auch negativ beschieden wurden. Dies betrifft zehn Außenstellen. Künftig sollen solche Überprüfungen bei Abweichungen von über zehn Prozent immer erfolgen, teilte das Bundesinnenministerium auf die Fragen der Abgeordneten Amtsberg hin mit. Die Bremer Mitarbeiter dürfen bis auf Weiteres keine Entscheidungen über Asyl treffen. Und Bundesinnenminister Horst Seehofer als Dienstherr des Bamf bemüht sich bei seinem Finanz-Kollegen Olaf Scholz (SPD) um zusätzliche Stellen für das Amt. Das ist dringlich, denn viele zur Zeit der Flüchtlingskrise geschlossene Zeitverträge laufen aus.

Drängende Fragen Mittlerweile richtet sich das Augenmerk in der Bamf-Affäre zunehmend auch auf die politisch Verantwortlichen. Dabei ist Seehofer derzeit einigermaßen aus der Schusslinie. Abgeordnete auch der Opposition bescheinigten ihm nach seiner Befragung vor dem Innenausschuss Aufklärungswillen. Umso drängendere Fragen richten sich an Seehofers Amtsvorgänger Thomas de Maizière (CDU), an den in der letzten Legislaturperiode für das Flüchtlingsthema zuständigen Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) und inzwischen auch an die Kanzlerin selbst. Denn laut "Bild am Sonntag" hat Ex-Amtschef Weise im Frühjahr 2017 zwei mal mit Angela Merkel (CDU) über gravierende Probleme im Bamf gesprochen. In der Fragestunde des Bundestags vergangene Woche danach gefragt, berichtete Merkel von "unzähligen" Gesprächen mit Weise, in denen es darum gegangen sei, Probleme zu benennen, um sie zu lösen. "Herr Weise wäre überhaupt nicht ins Bamf gekommen, wenn es nicht gravierende strukturelle Probleme gegeben hätte", sagte die Kanzlerin.