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Fall Amri : Mit Wissen der Polizei

Berliner Ex-Sonderbeauftragter berichtet über die kriminelle Karriere des Attentäters

02.07.2018
2023-08-30T12:34:30.7200Z
4 Min

Es waren äußerst bescheidene Anfänge. Eine summarische Chronologie der Bundesbehörden, eine etwas detailliertere des Landes Berlin, das Gutachten des nordrhein-westfälischen Sonderermittlers Bernhard Kretschmer sowie einige "unsortierte Papiere" fand Bruno Jost auf seinem Schreibtisch, als er Mitte April vergangenen Jahres mit zwei Mitarbeitern ein Büro der Senatsinnenverwaltung in der Berliner Klosterstraße bezog. Beim ersten Durchstöbern fiel immerhin ein interessanter Hinweis ab. In der Berliner Chronologie war die Rede von einem "Gesamtvermerk" der Polizei. Jost beschloss, dem nachzugehen - und ahnte noch nicht, dass er im Begriff war, den ersten Aufreger im Zuge seiner Ermittlungstätigkeit aufzudecken.

Acht lange Stunden verbrachte der heute 69-jährige pensionierte Bundesanwalt Jost in der vorigen Woche im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum "Fall Amri", um zu berichten, wie er von April bis Oktober 2017 als "Sonderbeauftragter" nach Versäumnissen der Berliner Behörden im Umgang mit Anis Amri fahndete, dem Urheber des mit zwölf Todesopfern bislang verheerendsten islamistischen Terroranschlags in Deutschland auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016. Ende Februar hatte ihn ein Anrufer aus der Senatsinnenverwaltung gefragt, ob er an der Aufgabe interessiert sei.

Er habe unter der Bedingung zugesagt, dass ihm völlige Unabhängigkeit sicher sei, berichtete Jost, und sich als erstes einen Arbeitsplan zurechtgelegt. Er wollte sich mit vier Themenkomplexen befassen: mit den polizeirechtlichen, strafrechtlichen und ausländerrechtlichen Aspekten der Behandlung Amris durch die Behörden sowie mit der Frage, ob dabei auch Nachrichtendienste eingebunden waren.

Doch das schöne Programm verwandelte sich bis auf Weiteres in Makulatur, als Jost den angeforderten "Gesamtvermerk" in Händen hielt. Das dauerte lange genug. Erst nach einem Monat lieferte die Berliner Polizei, dann allerdings nicht ein Schriftstück, sondern zwei. Das eine datierte von Anfang Januar 2017 und umfasste zwei dürre Seiten - das war das in der Chronologie erwähnte Dokument. Das andere war am 1. November 2016 in den Polizeicomputer eingestellt worden und zehn Seiten dick. In beiden war von Amris Aktivitäten als Drogenhändler die Rede. Allerdings gab es einen markanten Unterschied.

Im "kleinen", später abgefassten Vermerk hieß es sinngemäß, der Mann habe möglicherweise in Geringstmengen Rauschgift vertickt, also im Grunde nichts gemacht, was der Aufregung wert gewesen wäre. Dagegen wurde Amri im "großen" Vermerk auf der Grundlage von 72 abgehörten und ausgewerteten Telefonaten "banden- und gewerbsmäßiger Rauschgifthandel" bescheinigt. Was da geschehen sein musste, und was Jost in einem Zwischenbericht im Juli 2017 der Öffentlichkeit präsentierte, lag auf der Hand: Offenbar war im Berliner Landeskriminalamt nach dem Anschlag ein Aktenstück manipuliert worden, um zu vertuschen, dass es vor dem Anschlag durchaus eine strafrechtliche Handhabe gegeben hätte, Amri festzusetzen.

Dass diese Gelegenheit nicht zeitig erkannt und wahrgenommen wurde, ist für Jost der "Kern meiner Beanstandungen" gegen das Verhalten der Berliner Polizei. Zwar habe es sich beim Großteil der Amri im Laufe seines Deutschland-Aufenthalts zur Last gelegten Delikte um "Kleinkram" gehandelt. Die erste Straftat nach der Einreise etwa sei aktenkundig geworden, als er 2015 in einer Karlsruher Straßenbahn beim Schwarzfahren erwischt wurde. Später habe er in einer Flüchtlingsunterkunft zwei Mobiltelefone und in der Nähe wohl auch ein Fahrrad geklaut. Von ganz anderem Kaliber indes seien die Aktivitäten gewesen, die Amri von Mai 2016 an in der Berliner Drogenszene entfaltet habe, und zwar mit Wissen der Polizei.

"Er handelte mit allem, was schwindelig macht", sagte Jost, insbesondere mit Kokain. Amri schloss grundsätzlich kein Geschäft ab, das ihm weniger als 50 Euro eingetragen hätte. Er nahm Bestellungen entgegen und brachte in der Art eines Lieferdienstes einzelnen Kunden die Ware auch an die Wohnungstür. All das habe die "Unerheblichkeitsschwelle" deutlich überschritten: "Das war nicht minimales Niveau." Seit dem 11. Juni 2016, als die Ablehnung seines Asylantrags rechtswirksam wurde, sei obendrein der Drogenhandel Amris einzige Einkommensquelle gewesen. Allein das hätte nach Josts Ansicht genug Anlass geboten, ihn hinter Gitter zu bringen: "Es gab in Amris Persönlichkeit nichts, was gegen einen Haftbefehl sprach."

Den Behörden sei auch bekannt gewesen, dass Amri mit seinen Drogengeschäften erhebliche Profite erzielte. Jost erwähnte zwei im Sommer 2016 abgehörte Telefonate mit der alten Mutter in Tunesien. Die Frau habe sich gerührt und überschwänglich dafür bedankt, dass der Sohn ihr bis dahin in mehreren Raten die für heimische Verhältnisse exorbitante Summe von 1.500 Euro überwiesen habe. Amri selbst habe von der Absicht gesprochen, in Tunesien einen Lastwagen anzuschaffen, um ein Fuhrunternehmen zu eröffnen. Mehrere tausend Euro Startkapital habe er bereits beisammen.

Ungeklärt Ein bis heute ungeklärtes Rätsel ist für Jost, warum das Berliner Landeskriminalamt Amri zwar seit April 2016 observieren ließ, aber zwei Monate später wieder damit aufhörte. Dabei hätte die Maßnahme bis Oktober fortgeführt werden können, freilich unter der Bedingung, dass das LKA sie jede Woche erneut bei Gericht beantragte. Der letzte Antrag sei am 8. Juni eingegangen. Seit dem 15. Juni habe es keinen mehr gegeben. Weil die Ermittlungen statt eines Terrorverdachts eher Amris Verwicklung in den Drogenhandel bestätigten und der Staatsschutz das Interesse verlor? "Man hat zunächst mal schon das getan, was in solchen Fällen Standard ist, bloß aus meiner Sicht hat man es nicht lang genug und nicht intensiv genug getan."

Ein "Schlüsselerlebnis" für Amri sei gewiss auch gewesen, dass er im Juli 2016 beim Versuch, in die Schweiz auszureisen, festgenommen wurde, aber nach zwei Tagen wieder auf freiem Fuß war: "Nach meinem Eindruck hatte er schlicht das Gefühl, er kann hier machen, was er will, es passiert sowieso nichts."