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Gastkommentare - Contra
Stefan Reinecke, "die tageszeitung"
Sie waren das Enzym

»Offene Gesellschaft« auch ohne 68?

Die 68er haben genervt. Sie haben sich in x-autobiographischen Erzählungen zur Generation an sich stilisiert, an der gemessen alle anderen Leichtgewichte waren, bestenfalls Epigonen. Sie waren talentierte, medienfixierte Selbstdarsteller. Auch die Erzählung, dass sie im Alleingang die finstere postfaschistische, vermuffte Republik entrümpelten, gehört zu dieser Selbstüberhöhung. Die "Fundamentalliberalisierung", die Jürgen Habermas diagnostizierte, geht nicht nur auf das Konto einiger Aktivisten. Die 68er wären nicht erfolgreich gewesen, hätte die Republik sich nicht langsam von einer fordistischen Industriegesellschaft in einen postmodernen, individualistischen Konsumkapitalismus verwandelt, hätte es keinen explodierenden Bildungssektor, keine entstehende Popkultur und Freizeitgesellschaft gegeben.

Aber in diesem Prozess waren sie ein Enzym, das das Tempo beschleunigte und die Richtung änderte. Politisch sind die 68er mit ihrem verstockten Linksradikalismus gescheitert, aber sie haben die Alltagskultur verändert, die Sitten gelockert, das Geschlechterverhältnis entkrampft und mit einer Pädagogik gebrochen, in der das Kind nur Objekt war. Also einfach die Fenster aufgemacht.

Die 68er haben vieles diskursiv verflüssigt. Keine Autorität war mehr selbstverständlich. Dass die Selbstreflexion Normalmodus der Gesellschaft wurde, liegt auch an den 68ern.

Wie wäre die Republik ohne Revolte geworden? Wahrscheinlich: steifer, langweiliger, leidenschaftsloser. Nur weil die 68er sich narzisstisch lange größer machten als sie es waren, müssen wir sie nicht kleiner machen. Strukturen allein machen keine Geschichte, sondern Figuren, irrende, kluge, verrückte, begeisterte Akteure.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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