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Abtreibungsrecht : Der lange Weg zum Kompromiss

Lange wurde in der Bundesrepublik über den »218er« gerungen, die DDR liberalisierte schon in den 1970ern

26.02.2018
2023-08-30T12:34:25.7200Z
7 Min

Der Eingriff ist 35 Jahre her - und bis heute kann Tamara Wirt (Name geändert) sich an das beklommene Gefühl erinnern, mit dem sie damals das Ostberliner Krankenhaus betrat, in dem sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ. "Ich war mir zwar sicher, dass es der richtige Schritt war, aber leichtgefallen ist mir das nicht", erinnert sich die heute 60-Jährige, "aber mein Sohn war zu dem Zeitpunkt erst ein Jahr alt und unsere Ehe lief nicht gut. Noch ein Kind hätte ich mir damals nicht zugetraut." Bis heute sei sie froh darüber, dass Schwangerschaftsabbrüche in der DDR verhältnismäßig unkompliziert waren. "Ich war bei einem Arzt in der Klinik, der hat mir gesagt, was da passieren würde, und zwei Tage später war dann auch schon der Termin." Sie sei davon überzeugt, "dass kaum eine Frau sich so eine Entscheidung leicht macht - und da braucht es nicht noch jemanden, der moralisiert."

Mit dieser Überzeugung hatte Tamara Wirt Glück, in der DDR zu leben. Dort hatte die Volkskammer im März 1972 das "Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft" verabschiedet. Frauen bekamen damit das Recht, innerhalb von zwölf Wochen nach Beginn einer Schwangerschaft eigenverantwortlich über deren Abbruch zu entscheiden. Bis dahin waren Abtreibungen in der DDR dann möglich gewesen, wenn eine Kommission ihre Zustimmung dazu gegeben hatte. Nach dem 1950 verabschiedeten Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau waren Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten medizinischen und in Ausnahmefällen auch sozialen Indikationen erlaubt gewesen. Durch das liberale Gesetz wurden Schwangerschaftsabbrüche in der DDR zur Normalität. Direkt nach der Verabschiedung stieg ihre Zahl auf rund 119.00 im Jahr 1972, sank aber 1976 auf rund 83.000 und 1990 auf 74.000.

Vielen Frauenrechtlerinnen im Westen galt damals das DDR-Recht als Vorbild. Denn die Frage der Schwangerschaftsabbrüche wurde in der Bundesrepublik deutlich restriktiver gehandhabt. Das knüpfte an die Geschichte an: Im Mai 1871 wurde der Paragraf 218 im Reichsstrafgesetzbuch festgeschrieben, der besagte: "Eine Schwangere, welche vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft." Kommunisten und Sozialdemokraten legten immer wieder Anträge vor, um die Situation für die Frauen zu erleichtern. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden die Gesetze aber deutlich verschärft: Den betroffenen Frauen drohten lange Zuchthausstrafen, ab 1943 galt die Todesstrafe für "Täter, die die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigen".

Frauenbewegung Nach Kriegsende galt in der Bundesrepublik der alte Paragraf 218 wieder - ohne Todesstrafe. In den 1970er Jahren protestierte die Frauenrechtsbewegung unter dem Motto "Mein Bauch gehört mir!" gegen den Paragrafen. Unter dem Titel "Wir haben abgetrieben!" gaben im "Stern" am 6. Juni 1971 374 Frauen an, abgetrieben und damit gegen geltendes Recht verstoßen zu haben. Zu ihnen gehörten auch die Schauspielerinnen Senta Berger, Romy Schneider und Lis Verhoeven. Die Kampagne, die von der Feministin Alice Schwarzer initiiert worden war, war einer der Höhepunkt der Frauenrechtsbewegung in der Bundesrepublik - auch wenn einige der beteiligten Frauen später einräumten, sie hätten keinen Abbruch vornehmen lassen. Gefordert wurde seine ersatzlose Streichung mit dem Argument, Männer sollten nicht darüber bestimmen können, ob eine Frau ein Kind austrage oder nicht.

Die sozial-liberale Koalition versuchte, zu liefern: 1974 führte sie auch in der BRD die sogenannte Fristenregelung ein. Innerhalb der ersten zwölf Wochen sollte ein Schwangerschaftsabbruch nach ärztlicher Beratung demnach straffrei sein. Doch die Union - immer eine scharfe Gegner der Liberalisierung in diesem Bereich - klagte in Karlsruhe und bekam Recht. Das sich entwickelnde Leben habe Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau, urteilte das Verfassungsgericht (BVerfGE 39, 1). 1976 trat dann eine Indikationsregelung in Kraft. Der neugefasste Paragraf 218 sah eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vor, bei bestimmten Gründen - etwa medizinischen oder kriminologischen - sollte der Eingriff aber straffrei bleiben.

Streit vor Gericht Parlamentarisch neu aufgelegt wurde der Streit Anfang der 1990er Jahre: Im Staatsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik aus dem Jahr 1990 war das Thema Schwangerschaftsabbrüche nicht erwähnt worden. Vor allem ostdeutsche Frauen protestierten dagegen. Sie wollten sich die restriktivere West-Indikationslösung nicht überstülpen lassen. Gegen annähernd die gesamte Unionsfraktion setzten fast alle Abgeordneten der SPD, FDP, PDS und Grüne am frühen Morgen des 26. Juni 1992 nach ganztägiger Debatte eine Fristenlösung mit Beratungspflicht durch. Doch die bayrische Staatsregierung und mehr als 240 Unionsabgeordnete zogen vor Gericht.

Die Karlsruher Richter schritten erneut ein: Sie nahmen Anstoß an der Formulierung in dem Gesetzestext, dass ein Schwangerschaftsabbruch "nicht rechtswidrig" sei, wenn eine Schwangere sich vorher beraten ließe. Das aber verstieß nach Ansicht der Verfassungshüter gegen das Grundgesetz: Die staatliche Schutzplicht gegenüber dem ungeborenen Leben wiege so schwer, dass der Abbruch einer Schwangerschaft für die ganze Dauer einer Schwangerschaft "grundsätzlich als Unrecht" zu sehen sei. Begründete Ausnahmen von der Pflicht der Mutter, das Kind auszutragen, sahen die Richter - wie es auch schon länger geregelt war - bei medizinischer oder kriminologischer Indikation. Mit dem Urteil (BVerfGE 88, 203) baute Karlsruhe der Politik allerdings auch eine Brücke für die Beratungs-Fälle: Zwar müsse das Unrecht bei nicht-indizierten Schwangerschaftsabbrüchen im Strafgesetz klar benannt werden, der Schutzverantwortung gegenüber dem ungeborenen Leben könne der Staat aber auch über eine zum Leben hin orientierte Beratungspflicht nachkommen.

So setzt es der Gesetzgeber dann auch um. Seit 1995 gilt: Schwangerschaftsabbrüche sind auch während der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft rechtswidrig, bleiben aber straffrei, wenn die Frau mindestens drei Tage vor dem Abbruch eine Beratung in Anspruch genommen hat. Abtreibungen nach den ersten zwölf Wochen sind dann möglich, wenn - etwa in Fall einer Behinderung des Kindes - der Schwangeren körperliche oder seelische Schäden drohen würden, wenn sie das Kind austragen würde. Diese sogenannten Spätabtreibungen sind theoretisch bis zum letzten Tag der Schwangerschaft möglich.

Rückläufige Zahlen Insgesamt liegt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland bei etwa 100.000 pro Jahr und ist damit in den vergangenen Jahren stetig gesunken. Beendet ist der Streit um das Thema allerdings längst nicht: Gerade erst diskutierte der Bundestag einen weiteren Paragrafen aus dem Bereich der sogenannten "Straftaten gegen das Leben". Nach Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs ist es verboten, "Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft" zu machen: Das beinhaltet, über "eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs" zu informieren. Seit im November 2017 die Gießener Allgemeinärztin Kristina Hänel zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt worden ist, weil sie auf ihrer Website Informationen zum Schwangerschaftsabbruch veröffentlicht hat, streiten Parlamentarier aller Fraktionen darüber, ob diese Regelung - die aus dem Jahr 1933 stammt - abgeschafft oder mindestens verändert werden sollte (siehe Seite 1).

Was vielen Befürwortern einer Reform des 219a zusätzlich Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass die Regelung von Abtreibungsgegnern genutzt wird, gegen Ärzte vorzugehen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Auch Hänel war von den selbsterklärten Lebensschützern angezeigt worden - und viele Ärzte, die die Eingriffe vornehmen, klagen über massive Anfeindungen.

Verpflichtet sind Ärzte übrigens nicht, Abtreibungen durchzuführen: In Paragraf 12 Absatz 1 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes heißt es: "Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken." Darauf berief sich auch der Chefarzt eines Danneberger Krankenhauses, als er im vergangenen Frühjahr erklärt, sein Glaube verbiete es ihm, Abtreibungen nach dem Beratungsmodell durchzuführen. Die Leitung des Capio-Konzerns, zu dem die Klinik gehört, hat diesen Beschluss allerdings inzwischen widerrufen.

Dennoch scheint sich das gesellschaftliche Klima wieder zu verändern: Alljährlich demonstrieren Abtreibungsgegner auf einem "Marsch für das Leben" gegen die Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen, unterstützt von Vertretern der katholischen Kirche oder Abgeordneten von CDU und CSU. Nach Recherchen der Tageszeitung "taz" wird es für Frauen in Deutschland schwerer, Ärzte zu finden, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen - die Generation der Frauenärzte, die die Auseinandersetzungen um den "218er" miterlebt hätten, gingen in Ruhestand und immer weniger Kliniken und Praxen seien bereit, die Eingriffe vorzunehmen. Und aus Angst, von Abtreibungsgegnern angezeigt zu werden, würden Behörden und Ärzte nicht öffentlich sagen, wo sie noch möglich seien - für die betroffenen Frauen sei das eine immense Belastung. Zudem werde ihre Wahlfreiheit, ob sie den Eingriff unter Vollnarkose, örtlicher Betäubung oder medikamentös vornehmen lassen wollen, erheblich eingeschränkt.

Kulturkampf in den USA Insgesamt, so Berechnungen der Weltgesundheitsorganisationen, geht die Zahl der Abtreibungen in Europa zurück. Am häufigsten werde in Luxemburg, Großbritannien und Frankreich - die liberale Gesetzgebungen haben - abgetrieben. Besonders restriktive Regelungen gelten in Polen und Irland.

Wie intensiv noch immer über das Thema diskutiert wird, zeigt der Blick in die Vereinigten Staaten. Obwohl der Oberste Gerichtshof bereits 1973 grundsätzlich das Recht der Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch bestätigte, ist der Kulturkampf immer noch virulent. Konservative Kräfte und die christliche Rechte hoffen seit Jahren auf eine Revision des Urteils, setzen lokal aber auch auf zahlreiche kleinere Maßnahmen vor einem Abbruch, beispielsweise werden Frauen gezwungen, eine invasive Ultraschalluntersuchung vornehmen zu lassen. Auch mit Vorschriften wird vor allem in konservativen Bundesstaaten versucht, Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen zu verdrängen. In manchen Flächenstaaten der USA gibt es inzwischen nur eine Klink, die Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Susanne Kailitz

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Dresden.