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FALL AMRI : »Schlimmer Finger«

Zeuge berichtet über Begegnungen mit dem späteren Attentäter im Flüchtlingsheim

18.03.2019
2023-08-30T12:36:18.7200Z
4 Min

Sie hatten ihn gewarnt. Gleich am ersten Tag. Es gebe da einen unter den Heimbewohnern, der "ein bisschen Stress" mache, einen "schlimmen Finger". Auf den müsse er ein Auge haben, hieß es.

Wilhelm Bergs Berufsleben hatte soeben eine komplette Wende genommen. Er war gerade noch 61 Jahre alt, der nächste Geburtstag knapp vier Wochen entfernt. Mit Sozialarbeit hatte der ausgebildete Speditionskaufmann nie etwas am Hut gehabt, war lange Zeit selbständig gewesen. Doch jetzt, 2015, war er auf Jobsuche und hatte eine Anzeige der Stadt Emmerich gesehen. Gesucht wurden Mitarbeiter mit Englischkenntnissen, Sozialkompetenz, Einfühlungsvermögen. Berg bewarb sich und wurde genommen. Am 1. September trat er seinen Dienst an als Betreuer in der Flüchtlingsunterkunft an der Tackenweide. Gemeinsam mit seinem Kollegen Cyriaque Towenou wurde er für die Bewohner so etwas wie ein Universal-Problemlöser. Er half beim Ausfüllen von Formularen, bei der Wohnungssuche, verteilte alle 14 Tage die Schecks vom Sozialamt. "Im Endeffekt waren wir das Rundum-Betreuungspaket für die zahlreich erschienenen Asylanten", sagte Berg in der vergangenen Woche dem Amri-Untersuchungsausschuss.

Aliasnamen Gleich am ersten Arbeitstag sei ihm aufgefallen, dass an der Wand im Dienstzimmer eine Kopie der Meldebescheinigung eines einzigen Heimbewohners hing, eines gewissen Mohammed Hassa, mit Lichtbild. Auf dem Schreibtisch habe ein "Deckblatt" gelegen, auf dem diverse Aliasnamen des Mannes vermerkt waren sowie Delikte, die ihm zur Last gelegt wurden. Berg wunderte sich: Ein solcher Aufwand sei in "keinem anderen Fall" getrieben worden. "Das war eine Ausnahme", dass die Mitarbeiter der Unterkunft "in der Form" für einen Bewohner "sensibilisiert" worden seien. Der Mann sei ein besonderer Problemfall, deuteten Vorgesetzte und Kollegen an: "Wir waren gehalten, zu schauen, wie er sich benimmt, wenn wir ihn sehen."

Dass dieser Mohammed Hassa in Wahrheit Anis Amri hieß, wusste Berg damals ebenso wenig wie er ahnen konnte, dass der Mann mehr als ein Jahr später auf dem Berliner Breitscheidplatz den bislang opferreichsten radikalislamischen Terroranschlag in Deutschland verüben würde. Klar sei allerdings gewesen, dass er mit verschiedenen Namen und völlig ungeklärter Identität unterwegs gewesen sei: "Es war ja nicht bekannt, welche Staatsangehörgkeit unser Freund Amri hatte. Er wurde als Ägypter geführt, als Tunesier, als Marokkaner, das war ja sehr, sehr wechselhaft." Sein Geld habe Amri dennoch immer bekommen. Da konnte er sich auf das Sozialamt verlassen, wenn Mitarbeiter der Unterkunft wegen seiner unklaren Identität Rückfragen stellten.

Viel Mühe hatte Berg mit seinem Beobachtungsauftrag in Sachen Amri nicht. Er habe den Mann insgesamt höchstens fünf oder sechs Mal zu Gesicht bekommen, in der Regel dann, wenn Zahltag war, und wieder Schecks verteilt wurden: "Eigentlich war sein Bett immer leer." So habe er ihn als "sehr, sehr unauffällig" in Erinnerung. Ein letztes Mal begegnete ihm Berg bei der Scheckausgabe am 15. September 2016, gut drei Monate vor dem Anschlag. Erst zu diesem Zeitpunkt habe auch offiziell festgestanden, dass der Leistungsempfänger tatsächlich Anis Amri hieß. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass viele Heimbewohner, insbesondere Tunesier, ihn längst unter diesem Namen kannten.

Dass Amri in Emmerich als schwierig galt, hatte nach Bergs Erinnerung zunächst nur mit seinen kleinkriminellen Neigungen zu tun. Er habe es halt "mit dem Eigentum nicht so wörtlich" genommen. Doch bald meldeten sich Heimbewohner, die Amri als rabiaten Islamisten beschrieben. Auch der Staatsschutz begann sich erkennbar für ihn zu interessieren. Zwischen Ende Januar und August 2016 habe er drei bis vier Anrufe der Polizei erhalten, die sich nach Amri erkundigt habe, sagte Berg. Noch im Spätherbst 2016 seien zweimal Polizisten in der Unterkunft gewesen, die nach Amri suchten.

Religiöser Fanatismus Der Ausschuss hörte in der vorigen Woche auch zwei der Beamten, die damals bei Berg anriefen. Die Kriminalhauptkommissare D. und K., Staatsschützer aus dem Polizeipräsidium in Krefeld, fuhren am 11. Dezember 2015 nach Kleve, um in den Räumen der Ausländerbehörde einen Mitbewohner Amris zu treffen. Der syrische Kurde Lokman D. hatte sich bei mehreren Behörden über Amris religiösen Fanatismus und seine Sympathien für den sogenannten Islamischen Staat (IS) beschwert. Der Staatsschutz Krefeld legte daraufhin am 28. Oktober 2015 einen "Prüffall Islamismus" an. Die Angaben des Syrers seien ihm "im Gegensatz zu vielen Behauptungen", die er sonst höre, durchaus "glaubhaft" vorgekommen, sagte der Zeuge D.

Nach Erinnerung seines Kollegen K. hatte der Krefelder Staatsschutz damals rund 100 Islamismus-Prüffälle zu bearbeiten. Im Falle Amris schaltete sich indes bald nach der Unterredung in Kleve das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt ein. Der Mann sei bereits "Gegenstand der Beobachtung" in einem anderen Ermittlungsverfahren, zusätzlicher Fahndungsaufwand in Krefeld daher "kontraproduktiv", lautete in den Worten des Zeugen D. die Weisung aus Düsseldorf.