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Grossbritannien : Vor dem großen Knall

Sonderrat der EU entscheidet am Mittwoch über das weitere Vorgehen beim Brexit

08.04.2019
2023-08-30T12:36:19.7200Z
4 Min

Lange Zeit galt der 29. März 2019 als Schicksalstag für die Europäische Union und Großbritannien. Nun ist es der 10. April, Mittwoch dieser Woche. Erneut setzen sich die 27 EU-Staaten dann mit Premierministerin Theresa May zusammen, um endlich die Frage zu klären: Welchen Brexit soll es geben? Gibt es ihn überhaupt? Läuft es auf eine abermalige Verlängerung der Brexit-Frist hinaus? Endet das Drama gar im schlechtesten Szenario, dem No Deal?

Am vergangenen Freitag nahm EU-Ratspräsident Donald Tusk das Heft des Handelns aus Mays Hand. Er schlägt Nachrichtenagenturen zufolge den Mitgliedstaaten einen "flexiblen" Aufschub von zwölf Monaten für den Austritt der Briten vor. Fast zeitgleich ging in Brüssel ein Brief von Theresa May ein mit der Bitte, den Termin für den Brexit auf den 30. Juni zu verschieben. May sagte zugleich erstmals zu, dass ihre Regierung Notfallpläne für die britische Teilnahme an der Europawahl erstellen werde, sollte ein Abkommen über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nicht erreicht werden.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich die 27 EU-Staaten auf eine Verlängerung ohne Bedingungen einlassen, weil dies juristische Folgen für die Konstituierung des EU-Parlaments haben könnte. In deutschen Regierungskreisen plädieren Vertreter schon länger für eine Ausdehnung der Frist über die EU-Wahl hinaus.

Schon beim vergangenen Europäischen Rat am 21. März hatten die 27 übrigen Staats- und Regierungschefs der EU sich mit dieser Frage eingehend beschäftigt. Einstimmig setzten sie London zwei Leitplanken: Entweder May bekommt bis zum 12. April ihren bereits Ende November geschlossenen Deal endlich durch das Unterhaus. Dann erfolgt der Austritt am 22. Mai, dem Tag vor Beginn der Europawahlen. Oder aber sie legt einen Vorschlag für eine Verlängerung vor.

Eine Verlängerung würde in jedem Fall eine Teilnahme der Briten an der EU-Wahl voraussetzen - für die große Mehrheit in Mays Partei, aber auch in der Opposition, eine Furcht einflößende Vorstellung. "Wir würden das Vertrauen der Bürger in unser politisches System verspielen, wenn sie eine Organisation wählen müssten, die sie eigentlich verlassen wollen", warnt Brexit-Minister Stephen Barclay. Angesichts dieses "Schreckensszenarios" wäre ein überwältigender Druck zu erwarten, dass sich alle Beteiligten nun zum späten Kompromiss durchringen. Aber von einem klaren Plan war bis Ende vergangener Woche in London weiter nichts zu sehen. Zwar hatte May am Dienstag zuvor eine erstaunliche Kehrtwende gemacht und verkündet, dass sie "nun handle, um die Blockade aufzubrechen". Das Land brauche "nationale Einheit im nationalen Interesse". Sie werde daher mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn zusammenkommen und "einen gemeinsamen Plan zu finden versuchen, an den wir uns beide halten, um sicherzustellen, dass wir die Europäische Union mit einem Abkommen verlassen".

Drei Gesprächsrunden fanden daraufhin in der Downing Street statt. Doch statt zu einer "nationalen Einheit" zu gelangen, brachen in beiden Parteien umgehend die alten Konflikte auf. So warfen die Tory-Hardliner May vor, die Existenz der Konservativen und der gesamten Nation aufs Spiel zu setzen. Die Einladung der Regierungschefin an den Oppositionschef legitimiere "einen Marxisten, dessen einziges Lebensziel es ist, unserem Land zu schaden", wetterte Erz-Brexit-Anhänger Iain Duncan Smith.

Für ihn und andere bedeutet Mays Zugehen auf die Labour-Partei, dass die Konservative auf einen "weicheren" Brexit zusteuert, will sie wirklich einen Kompromiss mit Labour finden. Einen solchen sehen die Hardliner als ultimativen Verrat an, weil der Verbleib in einer Zollunion den Abschluss eigener Handelsverträge blockiert.

Die Labour-Partei hat sich schon vor Monaten auf eine Zollunion mit der Europäischen Union festgelegt, weil das den grenzüberschreitenden Handel wesentlich erleichtern würde. Zudem würde das Wegfallen von Zöllen das Aufbauen physischer Kontrolleinrichtungen an der heiklen Grenze zu Nordirland fast überflüssig machen.

In Mays Kabinett taten sich tiefe Risse auf. Schatzkanzler Philip Hammond bezeichnete ein zweites Referendum in einem Fernsehinterview, als "angebrachten Vorschlag". Gesundheitsminister Matt Hancock lehnte einen neuerlichen Urnengang indes kategorisch ab. Dieser spalte nur, statt etwas zu entscheiden.

Ein Streit, der in seiner Heftigkeit ebenso die Labour-Partei ergriff. Deren Chef Corbyn gilt als Brexit-Befürworter, was er aber aus politischem Kalkül nie öffentlich bestätigt. Corbyn betont lediglich, dass der Wille der Wähler umgesetzt werden müsse. Widerwillig musste er sich der Mehrheit seiner Partei beugen, die seit Monaten meint, dass ein zweites Referendum als ein Ausweg aus der Brexit-Krise Labour-Politik sein müsse. Corbyn wäre eine Neuwahl lieber, aber danach sieht es bisher nicht aus.

Corbyn schien sich in den Gesprächen mit May für die Option eines zweiten Referendums stark zu machen. Das aber provozierte prompt Proteste bei den Brexit-Hardlinern in seinen Reihen. 25 Abgeordnete warnten ihren Vorsitzenden in einem Brandbrief, dass eine solche Abstimmung "das Land noch weiter spalten wird und die fehlende Planungssicherheit der Wirtschaft nur verlängert".

Oberhaus-Votum Das britische Unterhaus hat sich vergangene Woche immerhin für eine Verlängerung der Frist über die Europawahl hinaus ausgesprochen. Das Oberhaus will bis Beginn dieser Woche daüber befinden und könnte den Ansinnen May dann mit auf die Reise nach Brüssel geben. Ob die EU 27 tatsächlich bereit sind, die Brexit-Krise zu verlängern, wird erst der EU-Gipfel zeigen.

Die Autorin ist Korrespondentin der »Welt« in London.