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»Klischees sind widerlegt«

08.04.2019
2023-08-30T12:36:19.7200Z
8 Min

Frau Prof. Schüttemeyer, das Institut für Parlamentarismusforschung hat vor dem Hintergrund der Bundestagswahl 2017 eine umfangreiche Studie zur Kandidatenaufstellung der politischen Parteien erarbeitet. Was waren für Sie die überraschendsten Ergebnissse?

Wir haben Parteimitglieder und –delegierte aller im Bundestag vertretenen Parteien auf 166 Nominierungsversammlungen befragt und die Antworten in 10.000 Fragebögen dokumentiert. Etliche Klischees, die über die Kandidatenaufstellungen in der Öffentlichkeit kursieren, können wir jetzt mit Daten und Fakten widerlegen. Und genau das macht den besonderen Wert dieser Studie aus.

Was heißt das konkret?

Nun, nehmen wir zum Beispiel den weit verbreiteten Vorwurf, die Parteien kungelten ihre Kandidaten in Hinterzimmern aus. Den Mitgliedern bliebe dann nichts anderes übrig, als diese Kandidaten zu bestätigen. Sicher gibt es Vorabsprachen. Dagegen ist aber auch nichts einzuwenden. Die Parteien müssen die in ihren Reihen vertretenen Interessen doch angemessen abbilden. Selbstverständlich muss also vorher abgesprochen werden, dass bei der Kandidatenaufstellung die Regionen eines Flächenlandes, die Flügel der Partei oder auch ein Geschlechterproporz berücksichtigt werden. Diesen Mechanismus können wir jetzt erklären und belegen. Das ist nichts Geheimnisvolles, sondern eine nachvollziehbare Notwendigkeit.

Ein weiterer Vorwurf ist die Annahme, dass Parteien Abgeordnete, die nicht nach der Pfeife der Fraktionsführung tanzen, vor der nächsten Wahl damit bestrafen, nicht wieder aufgestellt zu werden.

Das ist ein absolutes Ammenmärchen. Es funktioniert nach unserer Studie überhaupt nicht, wenn von oben jemand versucht, im Wahlkreis Einfluss zu nehmen. Die Wahlkreise sind außerordentlich autonom in ihrer Entscheidungsfindung. Die mittleren Führungseliten, also die Orts- und Kreisvorsitzenden, steuern diesen Prozess in der Regel sehr souverän. Im Übrigen werden sehr oft amtierende Bundestagsabgeordnete erneut aufgestellt.

Warum?

Weil er oder sie weiß, wie es geht und das Nominierungsverfahren schon einmal oder sogar mehrfach erfolgreich durchlaufen hat. Und weil ein amtierender Abgeordneter normalerweise bewiesen hat, dass er sich für seinen Wahlkreis im Bundestag einsetzt. Es ist also ziemlich schwierig, einen amtierenden Abgeordneten, der wieder nominiert werden will, abzulösen.

Sie sagten, Bestrafung eines Abgeordneten von oben, also aus der Bundespartei oder Parlamentsfraktion, funktioniert nicht. Gilt das auch für die Bestrafung von unten? Was muss ein Abgeordneter falsch machen, um nicht wieder aufgestellt zu werden?

Sich nicht um seinen Wahlkreis kümmern.

Also die Wochenendtermine schwänzen und die Basisarbeit vernachlässigen?

Genau. Die Leute vor Ort wollen das Gefühl haben, das ist unser Mann, unsere Frau in Berlin. Wer sich nicht um die Belange des Wahlkreises kümmert und ein zu enges Spezialgebiet im Bundestag bearbeitet, wird es schwer haben. Die Menschen wollen einen konkreten Ansprechpartner für ihre Sorgen und einen Generalisten auf allen Politikfeldern, der ihnen die aktuellen Entwicklungen erklären kann. Das entscheidende Kriterium für die Kandidatenkür ist also die Integration in die Partei und die Nähe zur Basis. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die sicherste Voraussetzung, Kandidat zu werden, ist, schon Abgeordneter zu sein.

Gilt das auch für die Listen?

Auf die ersten Listenplätze werden die Kandidaten gesetzt, die in den Wahlkreisen schon nominiert sind. Das ist nicht verwerflich, sondern gerecht, weil die Kandidaten ja schon bewiesen haben, dass sie im Kreisverband eine Mehrheit gewinnen können und bereit sind, die Kärrnerarbeit vor Ort zu leisten. In einigen CDU-Satzungen ist das sogar ausdrücklich festgelegt. Es geht dann letztlich nur noch um die Reihenfolge auf den ersten Plätzen der Liste. Außerdem belegt unsere Studie, dass die Voraussetzung, auf der Liste aussichtsreich nominiert zu werden, besonders intensives Engagement in der Parteiarbeit ist. Auch das ist ja nachvollziehbar.

Welche Rolle spielt der Ansatz der Spiegelbildlichkeit, also das Bestreben, über die Persönlichkeiten der Kandidaten einen möglichst realistischen Querschnitt der Bevölkerung widerzuspiegeln?

Die Vorstellung, dass der Landesvorstand ein fertiges Paket schnürt, das dann den Delegierten präsentiert wird, und die nicken es nur noch unreflektiert ab, ist ein beliebtes Klischee für die Listenaufstellung. Dafür haben wir keine Belege gefunden, wenngleich es schon verständlich ist, dass dieser Anschein manchmal entsteht. Zum Beispiel wurde die gesamte Landesliste der SPD in Nordrhein-Westfalen in nur 90 Minuten aufgestellt; die AfD hingegen brauchte durchschnittlich 90 Minuten, um einen Listenplatz zu besetzen. Trotzdem trügt der Eindruck. Denn vor der Abstimmung erbringt der Landesvorstand eine enorme Integrationsleistung. Damit die Liste durchgeht, müssen alle Proporze und Quoten berücksichtigt sein. Zum Beispiel kann es sich keine Partei leisten, selbst wenn sie keine feste Frauenquote hat, mit einer reinen Männerliste anzutreten – vielleicht außer der AfD. Es gibt Landesverbände, in denen haben die Bezirke faktisch ein Vorentscheidungsrecht. Dort gibt es dann Quoten nach Mitgliederschlüsseln, um Kandidaten vorab zu platzieren. So wird dann sichergestellt, dass bei der CSU in Bayern eben nicht alle Kandidaten aus Oberbayern stammen, sondern dass auch Franken dabei sind. Oder in Nordrhein-Westfalen Rheinländer und Westfalen zum Zuge kommen.

Ist das zu kritisieren?

Überhaupt nicht. Jedenfalls nicht im Grundsatz. Man sollte diesen Befund allerdings in ein anderes Licht rücken, indem man hinterfragt, ob es wirklich vernünftig ist, die genannten Kriterien in den Vordergrund zu stellen. Oder ob es nicht klüger wäre, stattdessen nach der spezifischen Eignung eines Kandidaten zu fragen. Wenn beispielsweise absehbar ist, dass in der kommenden Wahlperiode die Rentenpolitik eine wichtige Rolle spielt, könnte es sinnvoll sein, einen Rentenexperten zu nominieren. Und zwar unabhängig von anderen Kriterien, denn Parlament und Abgeordnete werden letztlich daran gemessen, ob sie vernünftige Entscheidungen treffen, Lösungen für bestehende Probleme finden. Gleichzeitig muss aber bedacht werden, dass es leichter ist, bei den Menschen Vertrauen zu erwecken, wenn einer oder eine meines Geschlechts oder meiner Herkunft im Parlament sitzt.

Die Frauenquote ist ein großes Thema. Der Brandenburger Landtag hat ein Parité-Gesetz beschlossen und auch im Bundestag gibt es Bestrebungen, Maßnahmen zu entwickeln, den Frauenanteil unter den Abgeordneten zu erhöhen.

Von einem Paritätsgesetz halte ich gar nichts. Ich halte viel davon, Frauen zu ermutigen und, wo nötig, Voraussetzungen zu schaffen, damit sie sich parteipolitisch mehr engagieren. Aber es ist ein katastrophal falsches Repräsentationsverständnis, zu fordern, die Hälfte der Parlamentssitze müsste mit Frauen besetzt sein, weil sie auch ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Ich kann mir Parlamente vorstellen, in denen 70 Prozent Frauen und 30 Prozent Männer sitzen. Oder auch umgekehrt. Es ist ein absurdes Politikverständnis, zu glauben, Fraueninteressen könnten nur von Frauen vertreten werden. Ein Parlament erbringt dann eine gute Repräsentationsleistung, wenn es gelingt, verschiedene Interessen auszugleichen und an der Idee von Gemeinwohl zu messen. Diese schwere Kunst ist nicht abhängig vom Geschlecht. Das können Männer wie Frauen gleichermaßen. Und außerdem: Warum eigentlich nur Geschlechtergerechtigkeit? Dann könnte auch gefordert werden, beispielsweise Menschen mit Behinderung entsprechend ihres Bevölkerungsanteils im Parlament zu etablieren. Im Prinzip ist das der Weg zurück in ein Ständeparlament. Nein, der Bundestag hat fast 70 Jahre lang bewiesen, dass er seine Repräsentationsleistung auch ohne Quoten erbringen kann.

Fast alle Parteien wollen Frauen fördern. Wie kann das gelingen, wenn etwa die FDP einen Frauenanteil von 22 oder die AfD von 21 Prozent hat?

Zunächst konnten wir in der Studie feststellen, dass in keiner Partei Frauen aktiv diskriminiert oder gar abgehalten werden, für Wahlämter zu kandidieren. Der Punkt ist vielmehr, dass in den Parteien durchschnittlich nur knapp 29 Prozent der Mitglieder Frauen sind, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den Parteien. Wenn die sich dann zur Kandidatur entschließen, haben sie gegenüber Männern sogar einen leichten Vorteil: Am Ende kommen dann 31 Prozent weibliche Abgeordnete heraus.

Es engagieren sich also zu wenige Frauen in den Parteien?

Eindeutig ja. Dafür lassen sich viele Gründe vermuten. Etwa eine ohnehin schon vorhandene zeitliche Doppelbelastung durch Beruf und Familie, die zu wenig Raum für Parteiarbeit lässt. Das ist aber den Parteien nicht anzulasten. Zumal in allen Parteien, wieder außer der AfD, ein gleich starker Frauenanteil als ein sehr wichtiges Ziel definiert wird. Übrigens: Wenn die Mitglieder der AfD das anders sehen, ist das ihr gutes Recht. Und es ist das gute Recht der Wähler, diese Ansicht zu teilen – oder eben nicht und dann dieser Partei nicht die Stimme zu geben. Ein Demokrat muss das akzeptieren.

Seit Jahren wird über eine Wahlrechtsreform diskutiert, um die ausufernde Zahl von Bundestagsmandaten einzuschränken. Bisher ohne Ergebnis. Wie nötig ist diese Reform und wie lässt sich endlich ein Ergebnis erzielen?

Unser Wahlrecht ist zu kompliziert. Die Bürger verstehen nicht ausreichend, wie sie wählen, schon gar nicht solche Dinge wie Überhang- und Ausgleichsmandate oder Verrechnungsverfahren. Und wenn das Parlament dann von Wahl zu Wahl größer wird, ist das nicht nachvollziehbar. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass nicht das Parlament uns diese Probleme eingebrockt hat, sondern das Bundesverfassungsgericht mit seinen Urteilen. Und das Parlament hat jetzt die undankbare Aufgabe, diese Schieflage wieder zu richten.

Was also ist zu tun?

Ich würde zunächst einmal die Frage aufwerfen, woher wir überhaupt so genau wissen, dass die momentanen 709 Sitze zu viele sind. Warum eigentlich? Einerseits geht es doch darum, für wie viele Wähler ein Abgeordneter steht. Da ist es sicher wünschenswert, dass auf einen Parlamentarier nicht zu viele Wähler kommen, die er repräsentieren muss. Auf der anderen Seite wird behauptet, dass ein zu großes Parlament ineffizient sei. Aber wie bemessen wir das eigentlich? Funktioniert das aktuelle Parlament schlechter als eines seiner Vorgänger mit deutlich weniger Abgeordneten?

Dann könnte ja alles so bleiben.

Ich finde, das sollte zumindest auch ins Kalkül gezogen werden. Ich würde gern unvoreingenommen darüber diskutieren, wie groß das Parlament für ein Volk von 82 Millionen Menschen sein sollte. Diese Diskussion steht noch aus.

Wie steht es um das Image des Parlamentarismus? Beispielsweise wenn sich, wie in Brandenburg geschehen, ein SPD-Politiker mit falschen Angaben über seinen Wohnsitz und seine Lebensverhältnisse eine Kandidatur für die Europawahl erschleicht.

Schwarze Schafe gibt es überall. Fatal ist, wenn schwarze Schafe medial und in der öffentlichen Wahrnehmung zum typischen Beispiel gemacht werden. Frei nach dem Motto: Da haben wir es wieder, so sind sie, die Politiker. Das macht es schwer, ein realitätsgerechtes Alltagsbild von Parlamenten, Fraktionen und Politikern zu zeichnen. Das ist ja auch immer wieder das Problem, wenn über Diätenerhöhungen berichtet wird. Obwohl es da mittlerweile ein plausibles und nachvollziehbares Verfahren gibt, wird trotzdem das Klischee bedient, Politiker stopften sich unkontrolliert die Taschen voll.

Das Gespräch führten Jörg Biallas und Sören Christian Reimer.