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Naher OSTEN : Die Logik des Chaos

Einmal mehr analysiert Gilles Kepel überzeugend die Krisen in der Region

21.10.2019
2023-08-30T12:36:28.7200Z
3 Min

Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten entscheiden nicht nur über die Zukunft der Region, sondern auch über das weitere Schicksal des politischen Islams. Welche politischen und wirtschaftlichen Systeme werden die islamischen Staaten nach dem Ende der Konflikte installieren? Welche Rolle kann oder sollte Europa dabei spielen?

An Antworten zu diesen Fragen versucht sich einmal mehr der renommierte französische Orientalist und Soziologe Gilles Kepel. Als Autor zahlreicher Bücher über den politischen Islam analysierte er die Entstehung des islamistischen Terrors und setzte ihn in Beziehung zur historischen und politischen Entwicklung im Nahen Osten. Zu seinen Standardwerken gehören das "Schwarzbuch des Dschihad" und "Al-Qaida: Texte des Terrors".

Bemerkenswert ist, dass Kepel seine Forschung nicht auf den Orient begrenzt, sondern stets auch die islamischen Gemeinden in Frankreich und in Europa im Blick hat. Dank seiner grundlegenden Arbeiten sagte der Orientalist eine weitere Dschihad-Welle voraus, die mit der Gründung der Terrorbewegung "Islamischer Staat" (IS) auch Europa erreichte. Nachzulesen sind diese Entwicklungen in seinem Buch "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa".

Wegen seiner öffentlichkeitswirksamen Auftritte in den Medien, in denen er den IS scharf kritisierte, erhielt Kepel Morddrohungen und wurde unter Polizeischutz gestellt. Diese Zeit nutzte er für ein weiteres faszinierendes Buch: "Chaos" ist nicht nur eine verständlich geschriebene Zusammenfassung der Hintergründe der aktuellen Krisen in der arabischen Welt und im Iran, sondern es liefert eine Erklärung für die wechselnden Bündnisse in der Region. Zahlreiche farbige Grafiken und Karten ergänzen den Text.

Laut Kepel ist die Islamische Revolution von 1979 unter Führung von Chomeini die wichtigste Ursache für die Entstehung des heutigen Konflikts zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Dieses Ereignis verdrängte den israelisch-palästinensischen beziehungsweise den islamisch-jüdischen Konflikt von Platz 1. Stattdessen begann ein amerikanisch-iranischer Konflikt, ausgetragen zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran. Die saudischen Wahhabiten strebten die Führung in der islamischen Welt an und finanzierten seit 1979 den sunnitischen Widerstand gegen die sowjetische Aggression in Afghanistan. Die daraus hervorgegangene Terrorsekte Al-Qaida attackierte am 11. September 2001 die USA und provozierte den "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan und im Irak. Die Intervention der USA im Irak endete in einem "Gemetzel der Glaubensrichtungen" und führte letztlich zur Entstehung des IS. Dieser wiederum trug seine Ideologie und seinen Terror bis nach Europa.

Die im Jahr 2011 begonnenen Aufstände des Arabischen Frühlings scheiterten nach einer kurzen Phase der "demokratischen Euphorie", wie der Autor nüchtern feststellt. Abgesehen von Tunesien, dessen schwere Wirtschaftskrise die errungene Freiheit noch immer bedroht, fielen Länder wie Ägypten entweder in den Autoritarismus zurück oder sie begannen blutige Bürgerkriege wie in Syrien, im Jemen oder in Libyen. Folge dieser Tragödien waren Millionen Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa aufmachten. Rechtsextreme Parteien profitierten von dieser Entwicklung.

Bei der Destabilisierung Europas spielte jedoch nicht nur die Angst vor einer angeblichen "Islamisierung Europas" eine Rolle, sondern auch die feindselige Politik von US-Präsident Donald Trump gegenüber der Europäischen Union und die Kündigung des Atomvertrags mit dem Iran. Gilles Kepel betont mehrmals, wie gefährlich "diese Logik des Chaos" für den Nahen Osten ist, insbesondere würden "Umbrüche auf eine bislang nicht da gewesene Weise begünstigt".

Russlands Rolle Als Geburt einer neuen Allianz in der Region bezeichnet Kepel die Annäherung zwischen Russland und Saudi-Arabien, die er auf die steigende Energieproduktion in den USA zurückführt. Moskau und Riad vereinbarten eine Politik der gemeinsamen Ölpreisbildung, denn in beiden Ländern wird der soziale Frieden allein durch hohe Öl- und Gas-Preise bewahrt. Dieses neue Bündnis sei der Grund dafür, dass Saudi-Arabien den militanten Gruppen in Syrien die Finanzierung entzogen habe. Seitdem komme Russland ein besonderes Gewicht in der Region zu als Mediator im Konflikt zwischen der Türkei, den Kurden und Syrien sowie Saudi-Arabien und dem Iran. Kepels Fazit ist eindeutig: Europa darf sich nicht auf eine Beobachterrolle beschränken, sondern muss sich aktiv für eine "gelungene Wiedereingliederung" der Region in die Weltordnung einsetzen.