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BALKANSTAATEN : Draußen vor der Tür

Die Europäische Union ringt mit ihrer Erweiterungspolitik - und braucht für sie einen neuen Ansatz

21.10.2019
2023-08-30T12:36:28.7200Z
6 Min

Es wird wohl auch dieses Mal nicht klappen. Nachdem Frankreich Mitte der vergangenen Woche im Europäischen Rat Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien grundsätzlich abgelehnt hat, verschwindet die Perspektive auf einen EU-Beitritt der beiden Länder im Nebel (siehe Beitrag unten). Zwar ist nicht ganz ausgeschlossen, dass sich Frankreich in Bezug auf Nordmazedonien kurzfristig noch anders entscheidet. Aber wahrscheinlich ist das nicht. Denn Präsident Emmanuel Macron hat dank seines europäischen Führungsanspruchs kein Problem damit, Nordmazedonien auch im Alleingang draußen vor der Tür warten zu lassen. Und mit Blick auf Albanien steht er nicht einmal allein da. Auch die Niederlande und Dänemark lehnen die Aufnahme von Beitrittsgesprächen ab. Um sie zu beginnen, ist ein Konsens aller EU-Mitgliedsstaaten notwendig.

Seit Juni 2018 ist es der dritte Anlauf, der schief geht. Und allen Beteiligten dürfte klar sein, dass dieses Scheitern unumkehrbar ist. Es kann nicht mehr darum gehen, auf den vierten Anlauf zu warten. Der Erweiterungsprozess der EU muss grundlegend diskutiert werden.

Das bringt vor allem die EU-Kommission in eine unangenehme Situation. Dem abtretenden Erweiterungskommissar Johannes Hahn ist die Angelegenheit aus gutem Grund peinlich. Er war nach Skopje und Tirana gereist, hatte ermahnt und Hoffnungen geweckt. Diese Ablehnung sei kein Ruhmesblatt für die EU, sagte er in Brüssel. Und man erinnert sich: Vor 16 Jahren hatte die EU den westlichen Balkanländer den Beitritt in Aussicht gestellt. Geschafft haben es seither Slowenien und Kroatien. Mit Montenegro und Serbien sind Verhandlungen im Gange, die allerdings nicht vorwärts kommen.

Seit 15 Jahren ist Mazedonien (heute Nordmazedonien) Beitrittskandidat und seit vielen Jahren empfiehlt die Kommission vergeblich den Verhandlungsbeginn. Bisher hatte Griechenland blockiert. Es hielt den Staatsnamen Mazedonien für inakzeptabel, da in Nordgriechenland eine gleichnamige Provinz existiert. 2018 einigten sich Skopje und Athen auf einen Kompromiss: Das Land heißt seither Nordmazedonien.

Den Bürgern wurde der Namenswechsel von EU-Emissären und der eigenen Regierung mit der Zusage verkauft, das Land könne anschließend Beitrittsgespräche beginnen. Dieses Versprechen wird nun gebrochen. In Albanien war es eine Justizreform, durch die die Einkommensverhältnisse und professionelle Kompetenz aller Richter überprüft wurden, die von Brüssel als letzte Hürde vor Beitrittsgesprächen dargestellt worden war. Nun werden neue Bedingungen genannt.

Bitterkeit Die Reaktionen aus den betroffenen Ländern sind eine Mischung aus Enttäuschung, Bitterkeit und Wut. Der nordmazedonische Ministerpräsident Zoran Zaev hatte im Sommer ein großes politisches Risiko auf sich genommen, als er sich mit seinem damaligen Athener Amtskollegen Alexis Tsipras auf den Namenskompromiss einigte. Nur weil er mit der Annahme des Prespa-Abkommens mögliche Fortschritte bei der EU-Integration verbinden konnte, brachte er es durch die Volksabstimmung. Zaev und Tsipras wurden danach von EU-Politikern mit Lob überschüttet und als leuchtende Beispiele für die ganze Region dargestellt.

Jetzt warnen viele Kommentatoren davor, dass die gebrochenen Versprechen den Nationalisten in den Ländern des westlichen Balkans Auftrieb geben könnten. Das wäre vor allem für die multiethnischen Staaten wie Mazedonien und Bosnien-Herzegowina gefährlich. Wenn diese Länder nicht gemeinsam unter dem Dach der EU sind, welche die Grenzen gleichzeitig sicher und durchlässig macht, kommt leicht der "Plan B" wieder aufs Tapet: der ethnisch definierte Nationalstaat.

Das könnte bedeuten, dass die Vereinigung von Albanien mit Kosovo bald offen diskutiert wird. Der albanische Ministerpräsident Edi Rama hatte in den vergangenen Jahren immer wieder damit provoziert. Wohl nicht zuletzt deshalb, um mit dieser Drohkulisse genau das zu verhindern, was jetzt geschieht: dass der Integrationsprozess seines Landes auf unabsehbare Zeit verschoben wird. Im Kosovo wird derweil mit großer Wahrscheinlichkeit der Linksnationalist Albin Kurti Regierungschef. Seine Partei Vetevendosje hat die Vereinigung im Programm. Man darf gespannt sein, wie die gestoppte EU-Integration auf den inneralbanischen Diskurs wirkt.

Ähnliches lässt sich mit Bezug auf die Serben in Bosnien-Herzegowina sagen. Milorad Dodik, der Präsident des serbisch dominierten Landesteils, spricht seit langem über einen Anschluss an Serbien. Dass Belgrad sich bisher darauf nicht einließ, liegt daran, dass es selbst Beitrittsverhandlungen mit der EU führt und sich seine Karten nicht verderben will. Auch das könnte sich ändern, wenn Serbien zu dem Schluss kommt, dass die Verhandlungen ins Nirgendwo führen.

Kritiker des europäischen Nicht-Entscheids sehen eine weitere Gefahr. Mit dem faktischen Rückzug der EU als dominanter Kraft entsteht auf dem westlichen Balkan ein strategisches Vakuum. Das könnte nun von Mitbewerbern um Einfluss aufgefüllt werden: Von den Chinesen, deren Investitionen und Kredite in der Region bereits jetzt willkommen sind und neue Abhängigkeiten schaffen. Aber auch von Russland und der Türkei, welche die lähmende Uneinigkeit der EU nutzen, um ihre Position zu stärken: Moskau als Schutzmacht der Serben, Ankara als Protektor der Bosniaken und anderer Muslime.

Schließlich untergräbt die EU mit ihrer Glaubwürdigkeit auch ihre Macht. Es ist schwer vorstellbar, dass Brüssel als ehrlicher Makler im Konflikt zwischen Belgrad und Pristina einen Ausgleich erzielen kann, wenn es jetzt klare Zusagen im letzten Moment widerrufen muss.

Doch was sind eigentlich die Argumente der Franzosen gegen Beitrittsverhandlungen? Die Europaministerin Amélie de Montchalin brachte es drastisch auf den Punkt. Die Verhandlungen glichen einer "endlosen Seifenoper" und müssten in ihrer Methodologie grundsätzlich verändert werden. Der Prozess sei nicht effizient und auch nicht zielführend. Mazedonien und Albanien würden eines Tages Teil der EU sein, aber es sei zu früh, den rechtlich verbindlichen Erweiterungsprozess zu beginnen.

Ineffizienz Zumindest mit dem ersten Teil, der Ineffizienz der Verhandlungen, hat die Französin einen Punkt. Wer nach Montenegro oder nach Serbien blickt, die seit 2012 beziehungsweise 2014 verhandeln, sieht zwar Fortschritte in Bezug auf die Wirtschaftspolitik und die Beziehungen mit den Nachbarn. Wenn es aber um Rechtsstaatlichkeit geht und insbesondere um die "checks and balances" zwischen Regierung, Parlament und Gerichten, dann zeigt der Trend in die Gegenrichtung. Auch mit Blick auf die prekäre Situation der Medienfreiheit entwickeln sich diese Staaten nicht zu liberalen Rechtsstaaten, sondern eifern eher dem ungarischen Beispiel einer illiberalen Demokratie nach. Mit dem gegenwärtigen Beitrittsprozess kommen diese Staaten dem Ziel einer Mitgliedschaft offensichtlich nicht näher.

Es gibt also gute Gründe. über neue Modelle zu diskutieren. Sie müssten wohl bei der Wirtschaft ansetzen, um den Lebensstandard in absehbarer Zeit an jenen in der EU anzunähern und die Abwanderung von gut Ausgebildeten zu bremsen. Die Region ist demografisch seit Ende der Kriege um ein Viertel geschrumpft. Dusan Reljic von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik schlägt vor, die Länder schon heute wirtschaftlich in die EU zu integrieren. In mancher Hinsicht sind sie es: 75 Prozent des Handels finden mit der EU statt. Dennoch beträgt das Bruttoinlandprodukt nur ein Drittel des EU-Durchschnitts.

Die Region ist eine billige Werkbank der Europäer, in der die Zulieferer für italienische und deutsche Firmen nur geringe Wertschöpfung erzielen. Um die Wertschöpfungsketten zu verlängern, muss die Infrastruktur ausgebaut werden. Verkehrswege und digitale Netzwerke sollten effizienter gemacht und mit Investitionen ins Bildungswesen Humankapital gebildet werden. Dafür, so Reljic, sollen die Länder bereits jetzt in die Struktur- und Kohäsionsfonds der EU eingebunden werden. Die Aufgabe ist durchaus verkraftbar: Es geht um deutlich weniger als 20 Millionen Menschen.

Es gibt also Ideen, wie die Integration des westlichen Balkans vorangebracht werden kann. Es spricht aber auch nichts dagegen, zumindest Mazedonien bereits jetzt ein verbindliches Datum für den Verhandlungsbeginn zu nennen - die sich weitende Glaubwürdigkeitslücke der EU spricht sogar sehr dafür. Die Zeit bis dahin sollte die Kommission nutzen, um eine neue Methodologie auszuarbeiten, mit denen die sechs Länder in überschaubarer Zeit an die EU herangeführt werden können.



Der Autor war bis 2018 Südosteuropakorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".